Der Jahresrückblick ist, auch im Jahre 2015, eine im medialen Diskurs tief verankerte, sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahr zu Jahr wiederholende Form, sich der Ereignisse der vergangenen Tage, Wochen und Monate zu erinnern. Viele Zeitungen und Zeitschriften, viele Fernsehsendungen, heute dominant auch viele Online-Medien nutzen das Genre des endjährlichen Jahresrückblicks, um “ihre” Version des Jahres zu veröffentlichen – und wohl auch, um somit eine bestimmte Sicht der Welt als Identität zu publizieren.

Dabei lassen sowohl negativ konnotierte als auch mit positiven Stimmungen assoziierte Kurzerzählungen als zeithistorische Mikroepisoden, in der Regel an prägenden Symbolen und Bildern illustriert (die man als thumbnail und visuellen Index für das jeweilige thematische Ereignis des Bilds begreifen könnte), eine zusammenhängende Erzählung des Jahres entstehen, die sowohl unterhält als auch informiert – also auch Geschichte erzählt. Der Jahresrückblick lässt sich in diesem Sinne als annalistische, zyklisch wiederkehrende Miniatur der Zeitgeschichte begreifen1. Im Narrativ eines Jahresrückblicks (be)schreiben wir – vielleicht nur gültig bis zum nächsten Jahresrückblick – die Geschichte des gerade vergangenen Jahres in ihrer akuten Wichtigkeit.

Dies ist Zeitgeschichte in bestem Wortsinne, da diese jüngst vergangene Geschichte der letzten zwölf Monate noch kaum kulturell formatiert ist, sozusagen noch das “Rohmaterial” der Zeithistoriographie bietet.Will man daher auch am Ende des Jahres 2015 einen reflektierten und methodisch zuverlässigen Jahresrückblick verfassen, bedeutet dies vor allem, sich bewusst zu sein, dass man ein medial und wissenschaftlich höchst präsentistisches diskursives Feld  betritt – es ist sozusagen “Arbeit an der Geschichte mit Zusehern”2, da die Figuration der Zeitgeschichte im Diskurs gerade vor unser aller Augen stattfindet und daher besonders hohen Aktualitätscharakter hat.

Dies bedeutet einerseits, dass das “Ablaufdatum” der Interpretation, die die Erzählung einer solchen zeithistorischen Miniatur vornimmt, zeitlich besonders nahe am Veröffentlichungsdatum liegen kann; aber auch, dass mit dem Jahresrückblick eine besonders aktuale und wirksame Form wissenschaftlicher Reflexion verbunden werden kann – nämlich insoferne, als dass gerade die Zeitgeschichte als “Geschichte, die noch qualmt” (Tuchmann) des noch nicht abgelaufenen Kalenderjahres erzählt wird.

In einer Zeit, in der das soziale Netzwerk Facebook allen UserInnen automatisiert die Möglichkeit bietet, einen ganz persönlichen Jahresrückblick in Bildern online zu posten, hat dies umso höhere Relevanz. Der Jahresrückblick, so lässt sich vermuten, könnte als digitale Miniatur eine durchaus angemessene Form der Zeithistoriographie für das Jahr 2015 und die nahe Zukunft sein. Ich möchte versuchen, die Möglichkeiten dieser Form für das empirische Feld der harten Musik, vor allem für den Diskurs des Black Metals und Extreme Metals im Jahr 2015, in ihrem Potential zu vermessen.

Jänner 2015: Marduks Album “Frontschwein” und der Terroranschlag auf die Redaktion von “Charlie Hebdo”

Das Jahr 2015 begann für die AnhängerInnen von Extreme und Black Metal in gewissem Sinne mit einem Paukenschlag: Die seit zwei Jahrzehnten etablierte schwedische Black Metal Band Marduk veröffentlichte mit dem äußerst aggressiv betiteten Album “Frontschwein” am 19. Jänner 2015 eines der ersten wichtigen Alben im Genrediskurs des Kalenderjahres. Die Platte – der Titel legt es provokativ nahe – greift wiederum das Thema des Kriegs, vor allem des Zweiten Weltkriegs auf, vor allem behandelt aus der Sicht deutscher historischer AkteurInnen. Es geht um die Rollenfigur des “Frontschweins”, ein provokativer, herabwürdigender und damit hoch ambivalenter Begriff und künstlerischer Schachzug Marduks, um das von ihnen schon lange bearbeitete Feld musikalischen Erzählens von Krieg nochmals betreten zu können.

Wie ich schon in einem früheren Beitrag darstellte, war der Diskurs, den das Album fundierte, in vielen Punkten “klassischer” Black Metal, wie frühere Alben Marduks. Die Kriegsthematik wurde aufgegriffen, um das “althergebrachte” Kulturkonzept des Black Metal der frühen 1990er-Jahre, das Chaos, Aggression, Provokation, auch Nihilismus, Misantrhopie, Hass und Zorn zu nicht weniger denn Werten erklärte, für 2015 zu aktualisieren. Das war schon das zentrale Thema von Marduks prägendem Genrebeitrag “Panzerdivision Marduk” aus dem Jahr 1999, das noch offensiver – auch deutlich zu kritisieren – titelte. Und dennoch hatte sich schon bei dieser nur scheinbar  “klassischen” Black Metal-Platte “Frontschwein” etwas entscheidendes geändert: In der Form des Narrativs der Platte wird nicht mehr nur mythisch assoziierend erzählt, sondern im Voranschreiten der Geschichte des Albums wird viel planvoller, synthetisch und chronologisch vorgegangen.

Es scheint, im Jahr 2015 hatten sich die einstigen subkulturellen “Rebellen” und “Provokateure” Marduks, agents provcateurs des Black Metal, darauf eingelassen, ihre Musik so zu erzählen, dass sie in der narrativen Form viel zugänglicher wird – nämlich in einer chronologischen Erzählform aufeinanderfolgender Episoden in Liedform, die klar widerspiegeln, dass man sich der chronologischen Erzählmethode historischer Monographien bediente – dieses “bürgerliche” und “konservative” Format im Black Metal zu wählen, war die erste zeithistorische Überraschung des Jahres 2015.

Erinnern wir uns: Zugleich fanden im Jänner in Paris die Morde um den Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift “Charlie Hebdo”, mit radikal-islamistischem Hintergrund, statt. Hier wurde die liberale, “westliche” und europäische Kultur durch extremistisch fundierte Taten angegriffen, nämlich terrorisiert. Marduks Weg hinein in die Bürgerlichkeit sowie der Anschlag auf “Charlie Hebdo” lassen somit im Jahresrückblick eine überraschende Parallelmontage zu: Während die “radikalen” KünstlerInnen von Marduk gleichsam in den Raum des Bürgerlichen hineinschritten, wurde dieses Bürgerlich-Liberale zugleich terrorisiert.

Es ergibt sich für den Jänner 2015 eine erzählerische Parallesequenz, in der Bürgerlich-Liberales und Radikales sowie Extremistisches amalgamieren. Sie machen den Beginn dieses Jahres zu einem ambivalenten Pendeln der Geschichte, das zeithistorisch beständig zwischen Bewahrung von bürgerlich-liberaler Kultur, ihrer Gefährdung durch Radikalismus, bei gleichzeitigem Öffnen des Radikalen selbst für das Bürgerlich-Liberale oszilliert. Der erste Monat des Jahres 2015 war daher ein historischer Raum, in welchem bürgerlich-liberale und radikal-fundamentalistische Kulturen amalgamierten – sie wurden zu einer “paradoxen Kohärenz”.3

Februar 2015: Vargsheims Album “Träume der Schlaflosen” und die beginnende Verarbeitung des Terrors in Paris und Europa

Gehen wir im Jahresrückblick 2015 einen Monat weiter. Nachdem Ende Jänner 2015 die kulturell folgenreichen Ereignisse in Paris – dem Anschlag auf “Charlie Hebdo” folgte ein breiter medialer Diskurs, der unter dem Motto “Je suis Charlie” europäische und globale Solidarität gegen den Terror vernetzte – kaum vergangen waren, ging es darum, in der kulturellen und netzwerkstrukturellen Verarbeitung der zeithistorischen Ereignisse von Paris einen Umgang mit dem Terror zu beginnen; also einen zeitgemäßen (Anti-)Terror-Diskurs, vor allem auch in den allgegenwärtigen sozialen Netzwerken, zu begründen. Das Kürzel “Je suis Charlie” und begleitende Symbole mit Frankreich- und Paris-Bezug wurden die visuelle und diskursive Infrastruktur dieses Diskurses.

Es ist wohl nicht verwegen, gerade das Narrativ und Themenfeld, das sich unter dem Kurzsatz “Je suis Charlie” formierte, auch als Praxisfeld europäischer und globaler Identitätsbezüge im Februar 2015 zu bezeichnen. Es entstand eine millionenfach rezipierte und digital in den sozialen Netzwerken gelebte Solidaritätspraxis, die das europäische und “westliche” Gemeinsame in der Solidarität gegen den Terror konstruierte. Man kann die beginnende Verarbeitung des Terrors mitten in Europa so zusammenfassen, dass das digitale Netzwerk unserer Zeit die kulturelle Infrastruktur der gelebten Solidarität bildete. Solidarität – ein höchst klassischer, vielleicht teils mehr “linker” denn “bürgerlicher” Wert – wurde somit auch im Februar 2015 auf Höhe der Zeit möglich. Es war die Aktualisierung eines traditionellen Wertes im Angesicht der sich bedrohlich aufbauenden zeitgeschichtlichen Welle des Terrors, wobei Europa im Fokus stand.

Zugleich fand auch im Diskurs der harten Populärmusik ein Ereignis statt, das unsere Beachtung verdient. Die deutsche Extreme- und Black Metal Band Vargsheim veröffentlichten nach ihrem erfolgreichen Album “Erleuchtung” (ein Titel, der sowohl esoterisch-mythisch als auch klassisch aufklärerisch mit Assoziationen spielt) am 20. Februar ihre Langspielplatte “Träume der Schlaflosen”. In gewissem Sinne führte diese Neuerscheinung der jungen deutschen Band den Weg fort, der mit “Erleuchtung” im Jahre 2013 bereits eingeschlagen worden war. Man spielt eine Form extremer, radikaler und dunkler harter Musik, die einerseits auf klassischen Black Metal-Elementen (wie “Screaming” als Form des Gesangs, sowie den genretypischen Gitarrenriffs und Schlagzeugeinsätzen) aufbaut, zugleich aber um Einiges “konservativere” und “etablierte” (man ist versucht, zu sagen: “spießige”) Anteile zu einem innovativen Amalgam formiert.

Man nimmt die heute kulturell akzeptierten Strukturen progressiver Rock-Musik vor allem der 1970er-Jahre auf. Damit entsteht in Verbindung mit den deutschen Liedtexten und metaphorischen Inhalten ein hybrides Amalgam, das einerseits extrem radikale und ehemals subversive Kulturfragmente des Black Metal der frühen 1990er-Jahre, aber auch “konservative” und “etablierte” Elemente westlicher Popkultur des Rocks der 1970er-Jahre zu etwas Neuem kombiniert. Man könnte sagen: Vargsheim platzierten gerade im Februar 2015 (man kann bestimmt davon ausgehen, dass die Veröffentlichung schon längerfristig geplant war, also auch kontextuell kontigent war) eine CD im kulturellen Raum der Popkultur Europas und der Welt, die Altes und Neues, Radikales und “Etabliertes” verkoppelte – eine métissage von Elementen, die sehr ähnlich der Narrativstrategie Marduks auf “Fronstschwein” vorging.

Durch die musikalische Grundstruktur, die Vargsheims Musik zugrundeliegt, wird die Hybridisierung von Radikal-Extremen und Bürgerlich-Etabliertem zu nicht weniger denn dem Programm ihrer Musik. Augenscheinlich wird das, wenn man das Label betrachtet, das sich die Gruppe selbst gibt – sie bezeichnet ihre Musik als “Black’n’Roll”. Analytisch bedeutet das, dass Vargsheim den Drang hinein in die bürgerliche Kultur selbst noch radikalisieren: Sie kombinieren Radikales und Etabliert-Bürgerliches zu nicht weniger denn ihrem musikalischem Programm. Das Kulturkonzept, das hinter Vargsheims Musik steht, ist die Radikalisierung des Wegs des Extreme Metal hinein in die Bürgerlichkeit selbst. Sie ist radikalisierte Aufklärung, die extreme und radikale Diskursinhalte durch das Prisma der “westlichen” und europäischen Liberalkultur selbst bricht.

Für den Februar 2015 ergibt dies folgende Entwicklung des zeitgeschichtlichen Kulturprozesses in der Jahresrückschau: Unter dem Diskurs und Narrativ von “Je suis Charlie” begann die Aufarbeitung des Terrors und seiner europäischen und globalen Wirkungen. Es formierte sich unter diesem Kurzsatz ein Solidaritätsdiskurs, der ein Praxisfeld “westlicher”, globaler und europäischer Identität wurde, einer “Anti-Terror-Identität”. Das digitale Netzwerk von heute wurde im Februar 2015 zur kulturellen Infrastruktur, die es erlaubte, den tradierten Wert von “Solidarität” (welcher sich in unterschiedlichen Ausformungen und Spielarten global verorten lässt)4 für heute postmodern und kulturell-digital vernetzt zu leben. Der “alte” Wert der Solidarität konnte erst durch das “neue” Strukturmodell des Netzwerks zeithistorisch erzeugt werden – eine kulturstrukturelle métissage, bei der Alt und Neu einander wechselseitig ermöglichen.

In der Parallelmontage des zweiten Monats des Jahres ist die Veröffentlichung von “Träume der Schlaflosen” zu sehen. Der auf der Platte präsentierte “Black’n’Roll” ist die Radikalisierung des Wegs des Black Metal hinein in die Bürgerlichkeit selbst – er is eine métissage als Strukturkonzept von Musikkultur, die die Hybridisierung und Amalgamierung von “Alt” und “Neu”, von Radikal-Extremen und Bürgerlich-Etabliertem, zum Programm macht. Und: Im Februar 2015 wurde durch die Veröffentlichung des Albums dieses Konzept im durch die beginnende Verarbeitung des Pariser Terror geprägten Diskurs wirksam.

Dies ergibt eine zweite erstaunliche Entwicklung im Jahresrückblick 2015: Im Februar dieses Jahres wurde Solidarität möglich, da die neue Kulturinfrastruktur des world wide web uns den alten Wert der Solidarität leben ließ. Und genau in diesem Diskurs wurde das Programm, Alt und Neu grundsätzlich zu verbinden, durch “Träume der Schlaflosen” praktiziert. Man könnte sagen: Der Diskurs, der die alte Solidarität in neuer Form ermöglichte, war in diesem Monat zugleich genau jener Diskurs, der es überhaupt ermöglichte, Alt und Neu zu kombinieren. Es ist frappierend: Die Verarbeitung von Terrorismus, der auf radikalem und extremistischen Diskurs beruht, stellte zugleich die strukturellen Mechanismen zur Verfügung, die das Radikal-Extreme in das Bürgerliche selbst hereinholt. Wir können beide kaum trennen. Sie sind wiederum eine “paradoxe Kohärenz”.5

Oktober und November 2015: Tranquillizers Album “Des Endes Anfang” und die Terroranschläge von Paris

Am 15. Oktober veröffentlichte die junge deutsche Band Tranquillizer aus Frankfurt an der Oder ihr Debütalbum “Des Endes Anfang”. Die Band ist in vielerlei Hinsicht eine der “typischen” jungen Bands im gesamten Spektrum des Extreme Metal, vor allem oft auch mit Wurzeln und Tradition im Bereich des Black Metal, die zwar sich in vielen Bereichen musikalisch innerhalb deren klassischer musikalischer Strukturen und Thematiken bewegen; aber diesen traditionellen Raum harter Musik oft auch bewusst sprengen und mit Elementen von Diskursen und Kulturen kombinieren, die man als “etabliert”, “bürgerlich” oder gar “hochkulturell” bezeichnen könnte. Dies traf bereits auf das Kulturkonzept zu, das hinter Vargsheim steht; aber in gewissem Sinne noch stärker auf die Musik Tranquillizers: Die Band wurde 2008 gegründet; schon der Umstand, dass eine ihrer HauptprotagonistInnen, nämlich Bassistin Madelaine Kühn, weiblichen Geschlechts ist und zum kreativen Zentrum der Gruppe zählt, ist im Bereich des Extreme Metal nicht mehr ganz neu, aber zumindest nicht die Regel.

Endgültig den gewohnten Rahmen sprengt die Band mit ihrer eher melodiösen Musik aus Elementen von Death und Black Metal, wenn man die Instrumentierung betrachtet – es finden sich nicht nur die “üblichen” Instrumente harter Musik, nämlich E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug, sondern auch die Posaune, gespielt von Johannes Gauerke, hat im Bandgefüge eine durchaus wichtige Funktion – ihr Spiel verleiht den Songs eine eigene Note und trägt damit in erheblichem Maße zur musikalischen Identität der Band bei. Schon der Umstand, dass Gauerke, Kühn und Tranquillizer somit das “biedere” Instrument der Posaune, die man sonst eher mit Orchestermusik verbindet, miteinbeziehen, macht klar, dass in ihrem musikalischen Programm traditionelle Kulturfragmente des Diskurses von Extreme Metal mit “bürgerlichen” Elementen hybridisiert werden.

Tranquillizer sind somit ProtagonistInnen einer neuen Generation von jungen Extreme Metal Bands, wie auch Varsgheim, die bewusst die Grenzen der Tradition vor allem des Black Metal (der vor allem seit den frühen 1990er-Jahren für Misanthropueie, Anarchie, Nihilismus, Hass, Satanismus, auch Gewalt und teils Heidentum stand) neu verhandeln, indem sie die “klassischen” Aspekte seines Diskurses mit Elementen aus der “bürgerlichen” und “etablierten” Kultur verbinden. Dieses Programm radikalisiert sich bei Tranquillizer hin zu einem humanistischen, radikal aufklärerischen Dikurs, wenn man etwa die Lyrics des Songs “Bestie Krieg” von ihrem Debütalbum betrachtet:

Von Gas getränkt sind Luft und Felder,
gnadenlos peitschen die Granaten
und Asche regnet nieder,
wie Schnee an einem endlosen Wintertag.

Dort, wo das Menschsein versiegt, der Verstand unterliegt,
triumphiert die Bestie Krieg.

Dort, wo der Optimismus resigniert, der Egoismus dominiert,
triumphiert die Bestie Krieg.

Nebel verhüllt die blutgetränkten Ebenen,
Stille legt sich über das Land.
Vernichtet ist alles, was einst geliebt wurde,
doch am Horizont zieht kein Frieden auf.

Dort, wo das Gewissen schweigt, die Habgier aufsteigt,
triumphiert die Bestie Krieg.

Dort, wo die Lüge regiert, die Wahrheit verliert,
triumphiert die Bestie Krieg.6

Diese Lyrics können als nicht weniger denn eine kleine Revolution der thematischen Ausrichtung und Struktur innerhalb des Diskurses von Black Metal betrachtet werden. Bisher, und noch Marduks Album “Frontschwein” vom Jänner 2015 war hierfür ein Beispiel, wurde der Krieg im Genre vor allem dazu benutzt, ihn teils sogar zu verherrlichen; zumindest aber über Erzählungen des Kriegs zu illustrieren, wie man sich die Welt vorstellt, wie man sie sieht; kurz, in der Narrativistik des Black Metal war der Krieg bisher jener diskursive Raum (etwa höchst ambivalent eingefangen im Begriff des “Frontschwein”, der zugleich abwertet als auch glorifiziert) der eher positiv für die Identität der MusikerInnen, ihrer MultiplikatorInnen und ihrer Fans stand. Krieg stand für Chaos, Gewalt, Nihilismus, Urzustand des Menschen (so faschistoid dies auch erscheint), zusammengesehen für die Identität der TeilnehmerInnen des Diskurses – sie wurden somit alle zusammen, nämlich MusikerInnen, MultiplikatorInnen und AnhängerInnen, in metaphorischer Hinsicht zu KriegerInnen.

Diese Identität löst sich unter der Perspektive der Lyrics von “Bestie Krieg” vollkommen auf, wird in ihr Gegenteil verkehrt. Damit überholt der Diskurs von Black Metal über das Thema des Kriegs, einst archetypisches Kulturfundament der Identität des Diskurses, sich selbst und radikalisiert den Weg hinein in das Humanistische, Liberale und Bürgerliche. Dies ist geradezu im Einklang mit dem Kulturkonzept, das hinter Vargsheim steht; man kann sagen, am Ende des Jahres 2015 ist Black Metal nicht mehr Kritik von Aufklärung oder gar ihre Verneinung, sondern ihre Radikalisierung, indem der Diskurs von Black Metal sich einer neuen diskursiven Logik annimmt.

Die Form dieser Logik ist auch wiederum bei Tranquillizer jene der Bildung einer “paradoxen Kohärenz”: Indem sie humanistisch inspirierte Lyrics mit radikaler Musik vermengt, die Posaune mit ihrem Spiel mit Extreme Metal hybridisiert, entsteht eine Identitätsaussage, die ihre Kohärenz aus der Widersprüchlichkeit gewinnt. Radikales und Dunkles sowie Bürgerliches, Aufklärerisches und Humanistisches gehen eine neuartige Beziehung ein, die einen neuen narrativen Raum – jenen einer  “paradoxen Kohärenz” aufreißt. Noch anschaulicher wird der “U-Turn”, den Tranquillizer in der Betrachtung des Kriegs vollziehen, wenn man die Lyrics von “Bestie Krieg” mit jenen von Marduks Titelsong “Frontschwein” vergleicht:

Howling fury, reap the sky – pale winds of death unleashed
Storm of iron – gale of steel ; erupting demon fist
In praise of death we celebrate the hunger for the kill
Into pandemonium – stench of scorched flesh
Boiled blood, charred bones
All heaven exult as destruction spreads its wings

Cracked horizon, bleeding ground, cold ruin branches out
Falling into livid dust – prophets of steel arise
Warbound ! Frontschwein ! back to the panther line
Willingly triumphing in eternal death, decay, ruin
– yet the only victory belongs unto the flies

Armored count – wood-splinters swirling
Red pawns keeps falling
Armored count – breathing smoke and sparks
pushing through trackless swamps

Panzer graf – Marauders of breath
spewing red-hot death
Panzer graf – Ancient walls bleeding
once again falling down

Eastsack, westsack – cognac infused attack
Barrage after barrage, torn apart like paper sacks
Machine guns preaching, engines roar – merciful faith no more
Into pandemonium – stench of scorched flesh, broiled skin, burnt hair
All heaven exult as destruction spreads its wings
Death – decay – ruin
– yet the only victory belongs unto the flies.7

Bei Marduk, Vertreter des klassischen Black Metal, ist der Krieg noch der Sinnstifter der Geschichte; sein Voranschreiten als Erzählung, durchaus oft seine Glorifizierung in zeithistorischer Perspektive, treibt die Historie voran. Bei Marduk dreht sich das Rad der Geschichte, weil der Krieg Sinn macht; bei Tranquillizer hingegen wird das Rad der Geschichte kurz angehalten und dann in eine neue Richtung weitergedreht – nämlich in jene Direktion, in der der Krieg keinen Sinn mehr macht und zur “Bestie Krieg” wird. Dies ist die Richtung des Humanismus und der Aufklärung. Ihre  Form der Erzählung und Identität ist die “paradoxe Kohärenz”. Dies ist, im Kleinen, im Diskurs der harten Musik von Tranquillizer im Oktober und dem Rest des Herbst und Winterbeginns 2015 nicht weniger denn eine kulturelle Revolution, die im Diskurs thematisch keinen Stein auf dem anderen lässt.

Erinnern wir uns: Kurz nach dem Release von “Des Endes Anfang”, nach dem Europa zuerst durch die “Griechenland-Krise”, dann durch die “Flüchtlings-Krise” geprägt war, sich das Empfinden von Krisenhaftigkeit zum wichtigsten Kennzeichen des politischen und medialen Diskurses überhaupt entwickelt hatte, kam es wiederum in Paris, einem zentralen Punkt Europas, zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015. Einen Monat nachdem Tranquillizer ihr Debütalbum mit dem Song “Bestie Krieg” veröffentlicht hatten, den radikalen Diskurs des Black Metal hinein in den aufklärerischen und liberalen, “westlichen” und europäischen Diskurs trugen, also vom Radikalen hinein ins Bürgerlich-Liberale gingen, attackierten radikal-islamistische Terroristen die Konzerthalle “Bataclan”, das “Stade de France”, Cafés, Restaurants und Bars – allesamt Symbole für diese Zielkultur Tranquillizers.

Es ist frappierend: Im November 2015, kam es zu einer dritten Überraschung der Zeitgeschichte im Jahresrückblick; in der narrativen Parallelmontage machte sich – noch dazu gerade im ehemaligen Kernthema des Kriegs – der bisher radikale, oft intolerante und fundamentalistische Diskurs des Black Metal auf den Weg in die “westlich”-europäische Liberalkultur. Er amalgamierte mit ihr und entzog sich damit gleichsam selbst sein gewalttätiges Potential. In denselben zwei Monaten – dem Oktober und November 2015 – wurden die schwersten Anschläge auf die Symbole der Liberalkultur in Europa seit Jahren, somit auf diesen Diskurs und seine Identität selbst, herrührend aus radikalem und extremistischen Denken und Handeln, vorbereitet und durchgeführt.

Damit war Europa in diesen beiden Monaten des Herbst 2015 beides: der historischem Raum, in welchem sich Radikales und Bürgerlich-Liberales annäherten und eins wurden; zugleich war Europa der geschichtliche Raum, in welchem die schwersten Angriffe auf den bügerlich-aufklärerischen Diskurs des “Westens” und seine Lebenssymbole seit Jahren stattfanden. Nun, wir können die Monate Oktober und November 2015 somit nur erfassen, wenn wir sehen, dass beides zugleich stattfand – Alt und Neu vermischten sich, Radikal-Extremistisches und Bürgerlich-Liberales ergaben nur zusammen den Sinn der Zeit (wenn er auch leider die Form des Terror- sowie Anti-Terror-Diskurses annehmen musste), wir können sie kaum trennen. Sie sind abermals eine “paradoxe Kohärenz”.

Schwarzer Stahl: das Jahr 2015 in der Rückschau als “paradoxe Kohärenz”

Wenn man aus dieser kurzen Rückschau für das Jahr 2015 als zeithistorischer Miniatur die notwendige analytische Konsequenz zieht; wenn man den Monat Jänner mit Marduks Album “Frontschwein” und dem Anschlag auf “Charlie Hebdo” betrachtet; wenn man an den Folgemonat Februar mit der Veröffentlichung von Vargsheims Album “Träume der Schlaflosen” sowie der beginnenden Verarbeitung des Terrors in Paris denkt; wenn man schließlich die Veröffentlichung von Tranquillizers Album “Des Endes Anfang” sieht, und diese man dem kurz daraufhin stattfinden Terror in Paris vom November 2015 verbindet, wird klar, dass der Jahresrückblick 2015 als zeithistorische Miniatur eine komplexe und netzwerkartige Neuerung in vielen Bereichen widerspiegelt.

Das Rad der Geschichte hat sich in diesem Jahr in erstaunlicher Weise, und dies vor allem in Europa, weitergedreht: Im Zeitraum von Jänner/Februar bis Oktober/November 2015 wurde Europa zu einem historischem Raum, in welchem viel stärker als bisher eine Konzentration der Geschichte ihre Sättigung fand, die man als “paradoxe Kohärenz” bezeichnen kann. Altes und Neues, Radikal-Intolerantes und Bürgerlich-Liberales formten einen gemeinsamen neuen und amalgamierten Diskurs paradoxer Kohärenz. Wir können beide nicht trennen, wir können nur versuchen, im Weg in die Zukunft der Geschichte Europas die neue paradoxe Form der Kohärenz in einem für uns alle gutem Sinne zu steuern. Dies bedeutet Europäizität in der Jahresrückschau 2015. Ich möchte diesen Jahresrückblick 2015 als zeithistorische Miniatur in eine Metapher fassen: 2015 war Schwarzer Stahl.


  1. Schon Hayden White hatte sich in seinem Klassiker der postmodernen Geschichtstheorie “Metahistory” Gedanken um die Annalistik als Grundform der Geschichtsschreibung gemacht. Vgl. hierzu: Ders., Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/Main 1991. 

  2. Vgl. hierzu vor allem die Metaphorologie Hans Blumenbergs, die hierzu schon ab den 1960er-Jahren, entstanden im Netzwerk des Diskurses der Begriffsgeschichte, nicht weniger denn eine grundlegende Ontologie und Methodologie metaphorischen Denkens, tief verankert in der Geschichte, lieferte; Blumenbergs “Paradigmen zu einer Metaphorologie” aus dem Jahr 1960 liegen seit 2013 in einer kritisch editierten und durch Anselm Haverkamp kompetent kommentierten Studienedition vor; das Projekt einer zeithistorischen Metaphorologie ist angesichts der überbordenden Komplexität gegenwärtiger Kulturdiskurse im digitalen Zeitalter hochaktuell: Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentiert von Anselm Haverkamp. Unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied. Frankfurt/Main 2013 (= Suhrkamp Studienbibliothek. Bd. 10); spezifisch zur Metapher “Schiffbruch mit Zuschauer” siehe auch: Ders., Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/Main 1979. 

  3. Vgl. zum Konzept einer “paradoxen Kohärenz”: Peter Pichler: Krieg und Frieden als „paradoxe Kohärenz“: Warum und wie die Europäische Union in ihrer Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik den Ersten Weltkrieg (ge-)braucht. Im Erscheinen. 

  4. Vgl. hierzu etwa: Kurt Bayertz (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt/Main 1998. 

  5. Vgl. wiederum: Pichler: Krieg und Frieden. 

  6. Lyrics zu “Bestie Krieg”; Quelle: https://tranquillizer.bandcamp.com/, abgefragt am 21. Dezember 2015. 

  7. Lyrics zu “Frontschwein”; Quelle: http://www.darklyrics.com/lyrics/marduk/frontschwein.html#1, abgefragt am 21. Dezember 2015.