Ich erinnere mich sehr genau an den 11. September 2001: Für mich birgt dieses Datum – wenn ich mich aus der historischen Erfahrung des Heute in die Gegebenheiten dieses Tages zurück versetze – eine doppelte Erinnerungsschiene in sich: Einerseits war dies für mich der Beginn eines neuen biographischen Abschnittes meiner individuellen  Lebensgeschichte, da es jener Tag war – im Übrigen in Graz, Österreich, ein wetterschöner Dienstag im Frühherbst -, an dem ich mich ebenda an der Karl-Franzens-Universität immatrikulierte. Zugleich haben sich die Bilder, Nachrichtensendungen und Stimmungen der Menschen und mir selbst rund um die Terroranschläge dieses Tages in den USA förmlich ins Gedächtnis eingebrannt. Ich erinnere mich höchst lebhaft, dass ich im Auto sitzend, im Stau stehend, am Rückweg zu meinem damaligen Wohnort, die ersten Meldungen zu den Ereignissen im Radio hörte.

Zuerst machte ich mir nicht allzu große Gedanken über deren Tragweite; aber als ich dann zuhause angekommen das Fernsehgerät einschaltete, nach und nach die Bilder über den Äther liefen, änderte sich dies dramatisch – mir wurde bewusst, dass hier etwas einschneidendes, entscheidendes und veränderndes vor sich gegangen war; wenn sich dies auch nicht sprachlich konkret und reflexiv artikulieren ließ. In der Rückschau stehen für mich heute somit die Bilder der Flugzeuge, die bewusst – um zu töten, zu schocken und zu terrorisieren – in die Zwillingstürme des World Trade Centers gesteuert wurden, für eine doppelte Erinneerungskonstellation: Einerseits für den Beginn eines neuen Abschnittes durch meinen Studienbeginn, andererseits für die Beschleunigung der heutigen weltpolitischen Epoche, die mit dem Ereignissen elementar verknüpft zu sein scheint.1

Mit den Ereignissen vom 11. September 2001, die vor allem uns “westlich” oder europäisch sozialisierten und kulturell verhafteten Menschen als fundamentale Erschütterung von Gewissheiten erschien – nämlich vor allem der Gewissheit, dass die USA nach dem Ende der bipolaren Weltordnung um “1989” gleichsam als alles dominierende Nation der Welt erschien und daher diskusiv als “unverwundbar” konstruiert wurden -, begann in den Augen vieler ein neuer zeithistorischer Abschnitt der Gegenwart. Besser könnte man es so ausdrücken, dass die neue Gegenwart, die mit “1989” eingeläutet worden war, durch die Ereignisse von 9/11 ihr definierendes Gepräge, ihren bildhaft aufgeladenen Memorialspeicher, ihre zentrale Allegorie und ihr titelhaftes “Namenszeichen” im kollektiven Selbstbild, somit ihr “Gesicht” erhielten. Die Flugzeuge, die in die Zwillingstürme gesteuert wurden, sind das bildliche Symbol für dieses neue Narrativ. Es folgten der allseits bekannte “Krieg gegen den Terror” sowie die weitreichenden Finanz- und Wirtschaftskrisen mit ihren globalen Implikationen.

Wir leben heute – begonnen mit dem “kollektiven Trauma” von 9/112 – in höchst unsicheren, nämlich emotional unsicheren Zeiten. Sie sind emotional unsicher insoferne, als dass uns wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gewissheiten verloren gingen, die nach 1945 bis zumindest in die 1970er-Jahre aufgebaut wurden und schließlich als gewonnen schienen. Spezifisch nach “1989” begann auch vor allem in Europa ein neues Zeitalter großer Herausforderungen, aber auch enormer Chancen der Freiheit und Selbstbestimmung.3 Sehr viele Menschen fühlen, dass eine grundlegend neue Zeit begonnen haben könnte; erst dieses Fühlen ermöglicht es ihnen, diese Vorgänge auch zu bedenken und verbal zu artikulieren.

Ich denke – auch reflektierend hin auf diese gleichsam impressionistischen Gedanken zu meiner persönlichen Erinnerung als Zeitgenosse seit 2001 -, dass der springende Punkt unserer chronologischen und zeitdiagnostischen Lage darin bestehen könnte, dass wir sehr präzise wahrnehmen, dass sich zentrale Strukturen unserer Kultur und unserer Gesellschaften, unserer Zeit und unseres Raums, somit auch unserer Geschichte, im beschriebenen Zeitraum verändert haben. Dies betrifft den anhaltenden Abwärtstrend unserer Wirtschaften, den “neoliberalen” Kurs und Diskurs des globalisierten Wirtschaftens – und vor allem auch die “Digitale Revolution”, die in erstaunlicher Parallelität zum kulturellen Auf- und Verarbeiten von 9/11 unsere Zeitgeschichte zu bestimmen begann.4

Gerade durch diese “Digitale Revolution” (die nicht ohne ihre Vorgeschichte seit dem 19. Jahrhundert der telegrafischen Netzwerke, des Telefonierens usw. zu denken ist) verdichtete sich die Kultur unserer Zeit in ihrem Netzwerkcharakter, sodass gerade dieser Netzwerkcharakter in seiner enormen Dichte – Web 2.0, Facebook, Twitter, Wikipedia, Youtube und Streaming sind nur einige zu nennende mediale Hinweisspuren im Netzwerk – dieser Zeit ihre Neuheit verleiht. Es handelt sich um eine Dichte, die uns in vielen Momenten des Lebens und Erlebens kaum Zeit zum Atmen lässt. Dies ist eine enorme Verflüssigung, aber auch eine neue Dichte, Masse, paradoxerweise aber auch eine enorme Inhaltsleere der Kultur des Netzwerks unserer Zeit – sie formen zusammen nicht weniger als eine neue kulturelle Ontologie, die mir in vielen Bereichen schon nach der viel beschworenen Postmoderne zu kommen scheint.

Die Welt, die der prägende Kultuwissenschafter Clifford Geertz schon Ende der 1990er-Jahre als “in Stücken” bezeichnete,5 ist in ihrer netzwerarktigen Struktur als Gespinst unterschiedlichster Codes und Deutungszuschreibungen förmlich undurchdringlich. Es ist heute – im Gegensatz zu früheren Epochen, als man zwar weniger von der Welt und dem Weltenraum kannte, dafür aber ein konventionalisiertes Bild der Welt und der Kosmologie und des Menschen in beiden vorherrschte6 – gleichsam nicht mehr möglich, ein auch nur annähernd “umfassendes” Bild der Welt zu haben; der “Shootingstar” des jüngsten deutschsprachigen Diskurses der Philosophie – Markus Gabriel – brachte dies in (von ihm wohl kaum intendierter Form) auf den Titel seiner Monographie “Warum es die Welt nicht gibt”.7

Die Welt, wie wir sie heute als Knoten und Kanten des kulturellen Netzwerks erfahren (müssen),8 ist eine große kulturontologische Herausforderung: Die Masse der Bedeutungsdiskurse ist so dicht geworden – weit hinausreichend über die “Neue Unübersichtlichkeit” (Habermas) der Postmoderne -, dass sie mir einen zentralen Effekt zu zeitigen scheint, den man als “Leere in der Fülle” auf den Punkt bringen kann. Die Welt ist so voll von Bedeutung, dass wir zu LeserInnen einer schieren Überproduktion an Text geworden sind, den wir nicht mehr beherrschen, nicht integrieren, nicht leben können. Die “Leere in der Fülle” ist kein Hohelied der Oberfläche,9 sondern eine (die?) zentrale kulturelle Herausforderung unserer Zeit. Die Leere ist nicht nur vielleicht eine Überforderung unserer selbst in der Kultur und Gesellschaft, sondern vor allem auch – bildlich gesprochen – eine Amputation unseres Sinns für uns selbst. Da wir kein konventionalisiertes Bild des Menschen mehr haben (können), müssen wir uns mit versuchsgemäßen Annäherungen an uns selbst in der Kultur zufrieden geben. Ist dennoch ein “Mehr” an Humanismus und Sinn im “Digitalen Zeitalter” möglich? Und: Was kann die Wissenschaft von der Kulturgeschichte zur Beantwortung unserer Fragen beitragen, indem sie uns uns selbst zu verstehen hilft?

Diese nur angerissene neue Ontologie unserer Zeit baut zwar auf unserer historischen Welt und Erfahrung auf, ist aber eben auch grundlegend neu. Sie impliziert eine andere Gesellschaft und damit auch ein modifiziertes Bild unserer selbst, wenn überhaupt noch ein Bild unserer selbst.10 Die Frage sollte daher in zielführender methodischer Strategie für uns für die Zukunft lauten: Wie kann ein ein neuer Weg, uns selbst bildhaft zu erkennen, in dieser Lage aussehen?  Oder noch pointierter: Gibt es einen historisch neuen “Netzwerkmenschen” oder sind wir schlicht überfordert und historisch-kulturell am Zerbrechen? So sehr uns all diese Fragen beschäftigen mögen, ihre Beantwortung als das große Ziel auch unserer Wissenschaften dienen möge, so sehr müssen wir uns im Moment der vefügbaren Daten und Empirie, unserer globalen und europäischen Geschichte seit dem September 2001 noch mit geringeren Ansprüchen begnügen; wir müssen zur Zeit fragend “kleinere Brötchen backen”; und zwar insoferne, als dass wir die Veränderungen unserer Zeiten und unserer Räume sehr gut beobachten können, aber noch darauf verzichten müssen, diese neue Ära definit und “abgeschlossen” zu benennen .

Dies verwundert reflexiv und methodisch-theoretisch wenig – wenn wir diese Ära abgeschlossen deuten könnten, würde dies a priori implizieren, dass sie selbst schon wieder zur Geschichte geworden sein müsste, also schon wieder eine neue Zeit begonnen hätte. Aber wir sollten bereits das Fragen strategisch so planen, dass wir im ferneren Verlauf des Diskurses die genannten “großen Fragen” auch gut stellen können. Ich denke, unsere bisherige und vor allem momentane Lage seit dem Beginn des neuen Kalenderjahres 2015 ist als ein wichtiger Teilprozess – als Etappe der Deutung dieser neuen Zeit – zu sehen. Seit dem Winter 2014/15 mehren sich in vielen kulturellen und politischen Bereichen die Hinweise, dass sich der Prozess der Erneuerung unserer Zeit – also Gegenwart – stark fixiert, herauskristallisiert und greifbarer wird; also diese neue Zeit uns größere Möglichkeiten einräumt, Geschichten über sie zu erzählen.

Ich denke hier etwa an die nicht weniger denn frappierende Entwicklung der Kultur des männlichen Bartwuchses, die als Teil einer “Hipster”-Kultur begriffen wird. Bei vielen – vor allem jungen – Männern steht das Tragen eines ausgeprägten Vollbartes wieder hoch im Kurs, erscheint als Ausdruck einer neuen Männlichkeit in unserer Zeit. In vielen Punkten erinnert dies auch an die Epoche des “fin de siècle” etwa im imperialen Wiener Raum, als selbst Kaiser Franz Joseph I. mit seinem bärtigen Archetypus des Männlichen als Figuralperson diente, die die Identität Österreich-Ungarns verkörperte. Es scheint – auch aus dem einschägigen Forschungsdiskurs vermutbar – so zu sein, dass sich  grundlegende Änderungen der Kultur des Bartwuchses auch mit tiefschürfenden kulturellen Transformationen verbinden lassen.11 Die neue, sich intensivierende Bartmode seit dem Spätjahr 2014 erscheint als Rückgriff auf etwa die Kultur um 1900, aber auch als Ausdruck einer neuen Männlichkeit, die stark konservative und traditionserhaltende Elemente in sich trägt.

Ferner ist eine enorme Beschleunigung des europäischen und globalen politischen Diskurses, sich drehend vor allem um das thematische Dreieck aus Terrorismus, Migration und Krisenmanagement, zu konstatieren. 2015 intensivierte sich schon kurz nach dem Jahresbeginn der allgemeine Diskurs um Terrorismus, Sicherheit und den gegenwärtigen Umgang mit beidem vor allem in Europa, nachdem es in Paris am 7. Jänner 2015 zum vor allem auch kulturell folgenreichen Anschlag islamistischer Extremisten auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift “Charlie Hebdo” gekommen war. Die Folge war ein vor allem im Netz breiter kultureller Diskurs, der unter dem Motto und Narrativkürzel “Je suis Charlie” als Zeichen der Identifikation und Solidarisierung mit den Opfern die folgenden Tage beherrschte. In kulturell-strukturaler Perspektive trug vor allem auch das Attentat und sein kulturelles Verschriftlichen und Verbildlichen im Web dazu bei, die Kultur allgemeiner in eine konservativere Richtung zu lenken.12

Der Diskurs der Politik in Europa und der Welt betont seit dem Jahreswechsel 2014/15 umso stärker die Motive von “Sicherheit” und “Heimat” (beides oft verbunden mit klassischem und exklusivem Nationalismus), um die Gefühle der Bedrohung und der Krisenhaftigkeit ins politische Systeme zu involvieren – leider bestimmend auch, um sie zu instrumentalisieren. Dies trug auch in hohem Maße dazu bei, dass etwa bei den Landtagswahlen am 31. Mai 2015 in der Steiermark und im Burgenland in Österreich die auch rechtsextreme FPÖ mit hierauf abziehlenden Wahlkämpfen enorme Stimmenzuwächse einfahren konnte. Dies steht in hohem Maße für eine Umlenkung des politischen Diskurses in eine noch ausgeprägter rechtskonservative Richtung im Zeichen des thematischen Dreiecks von Terrorismus, Migration und Krisenmanagement.13

Die krisenhaft bleibende mangelnde Ausgestaltung der Governance der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik im Mittelmeer – man denke an den Symbolort der Insel Lampedusa – nimmt diese Strömung sich katalysierend auf. Gerade die genannten beiden Aspekte des modischen Bartwuchses (dessen Interpretation noch der intensiveren Forschung bedarf) sowie des politischen Diskurses legen nahe, dass die neue Kultur seit dem Jahreswechsel 2014/15 zentral auch eine konservative Kultur ist. Ich denke, auch beschleunigt seit dem Jahreswechsel 2014/15 hat sich für uns eine neue, konservativere historische Lage ergeben; über diese gilt es nachzudenken.

War bisher seit September 2001 ein fundamental diffuses Empfinden von Veränderung und Bedrohung gegeben, so hat sich dies um diesen Jahreswechsel geändert: Wir sind nun in der Lage, ganz konkret die Frage zu stellen, was sich geändert hat – nämlich vor allem unsere Kulturerfahrungen. Dies bedeutet a priori erschlossen, dass sich die Veränderung unserer Geschichte soweit “angelagert” und “gesättigt” hat, dass wir sie nicht mehr nur diffus empfunden, sondern in methodischen Fragen über sie nachdenken können. Kurz, die neue Zeit wurde zum Gedanken, zum sprachlichen Satz – sie ist auf unserer kulturell geteilten kognitiven Ebene angekommen. Dies spricht nicht nur in enormen Maße dafür, dass diese neue Zeit “reif für ihre wissenschaftliche Entdeckung” ist, sondern dass sich eine neue Frage ergibt. Diese lautet selbstbezüglich: Wie können wir heute die Frage nach unserer neuen Zeit und uns in ihr überhaupt stellen? Erst diese beobachtende und selbstreflexive Frage macht es möglich, im Gegenwartsdiskurs voranzukommen – nämlich insoferne, als dass die Möglichkeit dieser Frage ihre mögliche Beantwortung als Potential unserer Gegenwart bereits teils impliziert. Unsere Zukunft ist als historischer Möglichkeitsraum im Bedenken und Stellen der Frage abzustecken.14

Mein Narrativ erfährt an dieser Stelle einen konzeptionellen Schnitt – einen Bruch, eine Katachrese. Ich gehe nach der Schilderung dieser fragenförmigen Ausganglage zur Form der Frage in ihrem Kulturinhalt für die Kulturgeschichte der harten Musik über. In einigen meiner letzten Beiträge in diesem Blog habe ich herausgearbeitet, dass auch ihr Diskurs und ihre Kultur durch Transformationen gekennzeichnet sind. Dies betrifft vor allem die sich wechselseitig überschneidenden Teilprozesse, dass sich die harte Musik immer stärker wissenschaftlichen Interesses erfreut und zugleich die Musik selbst und ihr Diskurs immer stärker im “Mainstream” der Populärkultur ankommen. Dies sind zwei erstaunliche Prozesse, wenn man bedenkt, dass diese Form der Rockmusik ursprünglich mit dem Nimbus der “Rebellion” gegen das “Bürgerliche” und “Althergebrachte” konnotiert war. Diese Prozesse haben aber auch ihre innere Schlüssigkeit. Ich will diese Fragestellung an dieser Stelle noch vertiefen.

Nicht nur “Verwissenschaftlichung” und ihr “Eingang in den Mainstream” kennzeichnen die Kulturgeschichte der harten Musik vor allem seit der zweiten Hälfte des Jahres 2014, sondern auch grundlegendere inhaltliche und stilistische Aspekte. Ich denke, diese stilistischen Aspekte – die neue Form der Musik – ist auch ein sehr greifbarer Hinweis darauf, dass wir eine neue Frage nach einer neuen Zeit nun besser stellen können. Die Frage lautet daher auch: Gibt es eine neue Musik für diese neue Zeit? Ich möchte diese Frage am Diskurs und der begleitenden Beobachtung sowie Introspektion meiner eigenen Gedanken am Exempel eines prägenden Beispiels der jüngsten Kulturgeschichte harter Musik (selbst-)reflexiv untersuchen. Am 19. Mai 2015 veröffentlichte die polynationale Gruppe Tau Cross ihr selbstbenanntes Debütalbum. Obwohl es das Debütalbum der Gruppe war, hatte ihre Musik förmlich eine Jahrzehnte währende Vor- und Konzeptionsgeschichte im musikalischen “Vorleben” ihrer Mitglieder.

Tau Cross kann als eine sogenannte “Supergroup” harter Musik gelten, da ihre Mitglieder – Gitarrist Andy Lefton, Gitarrist Jon Misery, Schlagzeuger Michel “Away” Langevin und Bassist sowie Sänger Rob “The Baron” Miller – zuvor Mitglieder in einflussreichen und sogar zur Entstehung prägender Stilistiken beitragenden Gruppen wie Amebix und Voivod waren. Amebix waren entscheidend im Crustcore verwurzelt, während Voivod seit den 1980er-Jahren im Thrash Metal tiefe Spuren hinterließen. Es verwundert kaum, dass die Musik von Tau Cross (im Übrigen nach einer Form der Darstellung des Kreuzes Jesu Christi benannt; nach dem 19. Buchstaben des griechischen Alphabets, der auch an dieses prägende kulturelle Symbol erinnert) diese Geschichten in sich integriert, auf ihnen aufbaut. Entscheidend ist jedoch, dass die Musik des Debütalbums weder genuiner Crustcore noch Thrash Metal ist; vielmehr nimmt das Album diese historischen Musikstile seit den 1980er-Jahren als Ausgangspunkt und präsentiert etwas neues zum Sehen, Hören und Erleben, also zum Fühlen und Denken für das Jahr 2015. Eine Rezension auf dem Webportal www.metal.de fasst dies so zusammen:

“Dass eine Band von sich behauptet, ihr Stil sei schwer in eine bestimmte Schublade zu stecken, ist heutzutage nichts Neues. Oft ist das nur eine billige Phrase, für Bands, welche nicht recht wissen, was für Musik sie machen wollen und dementsprechend unausgegorenen Kram verwursten. Im Falle von TAU CROSS ist das anders. Viele von euch haben sehnlichst auf das Debüt dieser Formation gewartet. Verständlich, denn mit Michael Langevin, Jon Misery, Rob Miller und Andy Lefton finden sich einige bekannte Namen zusammen und was sie mit ihrem Debüt geschaffen haben, ist ein durch und durch gelungenes Mischlingswerk, welches tatsächlich schwer einzuordnen und aus Elementen des Punk, des Thrash und des klassischen Heavy Metal zusammengesetzt ist.” 15

Ich möchte über dieses Urteil der Indifferenz zum Stil der Gruppe noch hinausgehen; ich denke, die Musik der Band – vor allem auch basierend auf der Jahrzehnte währenden musikalischen Erfahrung ihrer Mitglieder und damit aufbauend auf der Kulturgeschichte seit über dreissig Jahren überhaupt – ist als eine Geschichte zu deuten, die aufs Engste mit der von mir aufgeworfenen Frage nach einer neuen historischen (Menschenbild-)Ära unserer Tage verbunden ist; vor allem mit der Frage, wie wir die Frage nach dieser neuen Zeit überhaupt stellen können. Tau Cross’ Musik ist in bestem Sinne amorph – sie integriert Elemente und Stilistiken aus Punk, Hardcore Punk, Crustcore, Heavy Metal, Thrash Metal und auch einige Folk-Anleihen. Der entscheidende Punkt bestehen darin, dass durch die strategische musikalische Kombination dieser Elemente eine musikalische Ausdrucksform entstanden ist, die sich vom bisherigen Status quo der Kultur harter Musik abhebt und vor allem durch den Gesang Millers eine eigens individuierbare “kulturelle Einheit” (Eco) hervorbringt. Millers charakteristischer Gesang mit seinen oft eingägigen und “geradlinigen” Gesangsspuren verklammert alle Songs der Platte.

Er wurde – und ich denke dies wurde strategisch so von den Musikern umgesetzt – zum Label, zum Erkennungszeichen, dass das Arrangement bekannter Stilistiken verklammert, aber zugleich über diese hinaus geht; dieses Erkennungzeichen, dieser musikkulturelle marker schafft etwas neues, das beim Hören und Sehen zentral die Frage aufwirft, was dieses Neue ist. Die Frage, die ich mir beim hören der Platte stelle, lautet: Was ist dieses Neue? Millers Gesang assoziiert diese Frage, bringt sie zum Ausdruck. Die so große künstlerische Leistung Tau Cross’ besteht darin, dass die Musiker über das Stilmittel des Gesangs die verklammernde Frage nach dem Neuen aufwerfen, über die Collage des bisher bekanten in der Kulturgeschichte harter Musik seit über drei Jahrzehnten die Frage nach der neuen Zeit tief historischen fundieren, und hierüber erst die Form der Frage ermöglichen. Und gerade Millers Gesang – er ist weder eindeutig der Form des “cleanen” Gesangs noch dem gutturalem Gesang des “Screaming” oder “Growling” zuzuordnen – reisst den Raum der möglichen Antworten strategisch auf. Besonders deutlich wird dies im begleitenden Youtube-Clip (also einem digitalen Netzwerkprodukt), den die Band zum die Platte eröffnenden Song “Lazarus” publizierte:

Wenn ich diesen Song anhöre, meine Gedanken aufbauend auf der Introspektion der Gefühle von Risiken, Verunsicherung, aber auch der Freiheitschancen unserer Zeit fokussiere, ermöglichen es die Elemente, die den Stil der Musik auszeichnen, die Frage nach der Neuheit unserer Zeit und unserer selbst etwas besser zu stellen. Und genau die “Zutaten”, die den neuen Stil Tau Cross’ Musik so individuell machen, eröffnen in der Introspektion, damit auch folgend für methodisch-wissenschaftliche Heuristiken, eine äußerst sinnvolle Form der Frage nach der Herausforderung unserer heutigen Zeit. Somit ist es auch die Musik, die als Teil unseres Raums und unserer Welt die Frage- und Antwortmöglichkeiten in der Kulturwissenschaft förmlich präjudiziert; es ist also so, dass die Kunst hier der Wissenschaft in ihrer Ausdrucksform und Reflexion voraus ist. Wir HistorikerInnen können von KünstlerInnen wie Tau Cross sehr vieles lernen: Nämlich, erstens, dass in der Geschichte nichts bewahrungswürdiges verloren gehen muss – erarbeitete Kulturleistungen (Dinge, auf die wir zurecht stolz sein können in unserer Kultur – Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Humanismus, Europäismus und Pluralismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts) bleiben erhalten.

Wir müssen uns aber, zweitens, damit abfinden, dass wir diese Dinge – genauso wie es Tau Cross mit der Musikgeschichte der letzten drei Jahrzehnte tun – zielführend und sinnstiftend neu arrangieren müssen. Wir müssen im Gehabten den Weg für das Neue zielstrategisch öffnen und fixieren (etwa in einer guten Ausgestaltung demokratischer europäischer und globaler Governance im 21. Jahrhundert; im Vorantreiben der Menschenrechte; im kreativen und menschlichen Umgang mit den enormen neuen Migrationsbewegungen; in der Reflexion und im Bekämpfen ideologischer Extremismen und Terrorismen aller Couleur). Was Rob Millers Gesang für die Musik von Tau Cross ist, nämlich ein Mittel, das Gute der Geschichte sinnhaft zuverklammen und zugleich das Neue auf den Weg zu bringen, indem eine neue kreative Form zwischen den bisherigen Kategorien gefunden wird, das müssen wir für unsere Kultur und ihr Menschenbild erst erbringen. Stellen wir die Frage nach der Möglichkeit des Fragens im Sinne des Lernens und Reflektierens aus etwa Tau Cross’ Kunst, dann lautet diese: Welches Denkbild von uns selbst, welches historische Menschenbild kann uns in unsere Zukunft führen? Eine mögliche Antwort zu Beginn des Nachdenkens liefert Hans Lenk im Sinne der philosophischen Anthropologie:

“Der Mensch ist, wie bereits mehrfach erwähnt, (…) ein kulturell gepägtes Wesen: Er ist auf Kultur angewiesen, in (mindestens) eine Kultur hineingewachsen. Jede Kultur ist geschichtlich entstanden, gewachsen und tradiert. Also ist der Mensch ein geschichtlich tradiertes Wesen.

(…) Die ‘prinzipielle’ Neuartigkeit [Lenk reflektiert hier eine ‘Anthropologie der Kreativität’, P.P.]: Sie ist natürlich in der Forderung der Originalität enthalten, aber das ist noch zu allgemein; es muss die Entwicklung neuer Perspektiven, Darstellungsweisen und Gesichtspunkte hinzukommen. Die Originalität kann nicht elementar in dem Sinne sein, dass nur neue, jedoch kleine Erweiterungen vorgenommen und neue Kombinationen von schon Bekanntem erzeugt werden, sondern es müssen neue Grundlagen gesehen, ganz neue Sichtweisem geschaffen, neue Perspektiven, neue Schichten der Deutung entwickelt werden; es zählt also grundsätzlich eine ‘Multiperspektivität’ oder ein ‘Neoperspektivismus’, heute oft geradezu instrumentell angeregt oder verstärkt durch Muldimedia(litä)t.” 16

Dieser Deutung des Menschen unserer Tage bleibt aus der Sicht der Kulturgeschichte (allgemein sowie spezifisch jener der harten Musik) als Wissenschaft nicht viel hinzuzufügen. Wollen wir uns in unserer Zeit zurechtfinden, müssen wir strategisch und gut über das Kombinieren von bereits gehabtem (der Phase in der wir uns momentan offensichtlich befinden; Tau Cross’ Debütalbum ist ein wichtiges Indiz hierfür) in fernerer Zukunft hinauskommen. Wir befinden uns momentan offensichtlich in diesem Zeitalter der konservativen Re-Collage von vorhandenem. Wollen wir aber wirklich in fernerer Zukunft besser zu uns selbst finden, müssen wir in kreativer Weise auch das kulturelle Element oder die kulturellen Elemente finden, die das grundlegend Neue bedeuten. Was dabei für Tau Cross’ Musik Rob Millers innovativer Gesang ist, müssen wir für Europa und die Welt noch herausfinden. In einem integraleren Menschenbild unserer “Netzwerkzeit” könnte ein reflexiver Ausgangspunkt bestehen. Kurz: Wir sollten lernen, zielführender nach uns selbst in der Geschichte zu fragen.


  1. Vgl. hierzu: Manfred Berg: Der 11. September 2001 – eine historische Zäsur? In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 463-474; sowie umfassender: Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. München 2011. 

  2. Vg. hierzu etwa: Angela Kühner: Kollektive Traumata. Annahmen, Argumente, Konzepte. Eine Bestandsaufnahme nach dem 11. September 2001.  Berlin 2003; umfasssender zum Konzept “kollektiver Traumata” siehe: Dies.: Trauma und Kollektives Gedächtnis. Gießen 2008. 

  3. Siehe hierzu: Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit. München 2012. 

  4. Zu einer fundierten historischen Rückschau hierzu siehe etwa: Andrew L. Russell: Open Standards and the Digital Age. History, Ideology, and Networks. Cambridge 2014. 

  5. Vgl. hierzu: Clifford Geertz: Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien ²2007. 

  6. Vgl. hierzu etwa: Bernulf Kanitscheider: Kosmologie, Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive. Stuttgart 1984; aktueller auch: Das neue Bild des Universums – Quantentheorie, Kosmologie und ihre Bedeutung. München 2009. 

  7. Vgl. Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013. 

  8. Vgl. hierzu sehr aufschlussreich jüngst: Henning Laux: Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie. Weilerswist 2014. 

  9. Vgl. für die Diskussion der ursprünglichen Postmoderne etwa: Bernd Graff: Das Geheimnis der Oberfläche. Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons. Tübingen 1994; allgemeiner zur Diskussion der Postmoderne siehe auch: Klaus W. Hempfer (Hg.): Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne. Stuttgart 1992. 

  10. Als guter Ausgangspunkt einer integralen Reflexion eignet sich bestens: Hans Lenk: Das flexible Vielfachwesen. Einführung in die moderne philosophische Anthropologie zwischen Bio-, Techno- und Kulturwissenschaften. Weilerswist 2010. 

  11. Vgl. zum feuilletonistischen Diskurs: Johanna Adorján: Phänomen Bart. Männer in Großstädten. In FAZ, Online-Ausgabe vom 13.12.2015. Online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/phaenomen-bart-maenner-in-grossstaedten-13319448.html, abgefragt am 22. Juni 2015; umfassender jünger siehe: Jörg Scheller/Alexander Schwinghammer (Hg.):Anything Grows. 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes. Stuttgart 2014; sowie allgemein auch: Barbara Martin: Der bärtige Mann. Handbuch zur Geschichte des Bartes. Berlin 2010. 

  12. Vgl. hierzu etwa sehr reflexiv: Olivier Roy: Die populistische Obsession. Kommentar. In: taz Online-Ausgabe vom 23.1.2015. Online unter: http://www.taz.de/!5022739/, abgefragt am 22. Juni 2015. 

  13. Vgl. hierzu erhellend etwa: Michael Bauer: FPÖ bei pessimistischen Steirern am stärksten, In: Der Standard, Online-Ausgabe vom 31.5.2015. Online unter: http://derstandard.at/2000016713703/FPOe-bei-pessimistischen-Steirern-am-staerksten?ref=rec, abgefragt am 22. Juni 2015. 

  14. Vgl. zum logischen Status der Zeit vor allem: Klaus Kornwachs: Logik der Zeit – Zeit der Logik. Eine Einführung in die Zeitphilosophie. Münster u.a. 2001. 

  15. Quelle: http://www.metal.de/heavy-metal/review/tau-cross/61238-tau-cross-/, abgefragt am 19. Juni 2015. 

  16. Quelle: Lenk, Vielfachwesen, S. 590, S. 551. Hervorhebungen im Original durch Kursivsetzung.