Die Erkenntnisgröße “Europa” – oft sogar als Paradigma oder Leitvorstellung des Schreibens von Geschichte und Kulturgeschichte überhaupt betrachtet –1 wurde seit den 1990er-Jahren zu einer bestimmenden Größe des geschichtswissenschaftlichen Diskurses. Wenn man heute Geschichte schreibt (und hierbei scheint es gleichsam gleichgültig zu sein, ob man Politik-, Rechts-, Sozial-, Kultur-, Körpergeschichte oder was auch immer schreibt) – ist es nicht nur “schick” oder “trendy”, an den jeweiligen Gegenstand eine transnationale oder vor allem auch europäische Perspektive und Wahrnehmung anzulegen; es erscheint heutzutage geradezu als Pflicht postmoderner HistorikerInnen, “Europa” zu einer der wichtigsten perspektivischen und theoretischen Referenzen überhaupt zu machen.

Ich denke, dies ist wichtig und ideologiegeträchtig zugleich. Es steht außer Zweifel, dass mit dem faktischen Voranschreiten der europäischen Integration nach dem Vertrag von Maastricht mit Rechtsgültigkeit ab 1993 auch die Europa-Geschichtssschreibung einen erneuten Aufschwung nahm. Ähnliches ließ sich schon für die 1950er- und 1960er-Jahre beobachten – im Anschluss an den Ausbau der europäischen Integration mit dem Römer Vertragswerk von 1958, das als wichtigste Institutionenform die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hervorbrachte, hatten spezifisch im deutschen Diskurs auch historiographische Referenzen zum Diskurskörper “Europa als Abendland” Konjunktur.2

Es scheint sich also so zu verhalten, dass das Schreiben von europaorientierter Geschichte auch in der Wissenschaft teils – teils aber auch nicht – mit den tatsächlichen Konjunkturen und “Stopps” der europäischen Integration nach 1945 zusammenfällt. Dies verwundert wenig, ist doch auch die Kulturgeschichte, wie sie seit den 1990er-Jahren die Geschichtswissenschaften anleitet, kein politik- und gesellschaftsfernes Projekt, sondern ein Diskurs, der im Netzwerkverhätnis zu Politik und Gesellschaft steht; dieser Diskurs dachte daher verstärkt dann über Pro- oder Kontra-Europa-Positionen nach und betonte allgemein “Europa” als Referenzgröße, wenn die faktische Geschichte Europas und des Weltballs nach 1989 dies nahelegten. Die historiographiegeschichtliche Beschäftigung mit der Europahistoriographie zeigt dies deutlich.3

Das positiv zu bewertende an dieser Entwicklung ist, dass vor allem der “methodologische Nationalismus”,4 der die Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert prägte, teils aufgebrochen wurde und man sich auf die Suche nach europäisch-gemeinsamen Narrativen und Geschichtsbildern machte. Der ideologieträchtige Punkt besteht darin, dass sich mit der Förderung von geschichtswissenschaftlicher Forschung spezifisch durch die Europäische Union auch Potentiale einer integrationseuropäischen Ideologisierung der Narrative verbinden lassen, die das Netzwerk zwischen EU-Institutionen und “scientific community” teils schon seit den 1970er-Jahren prägen.5 Es besteht also durchaus und immer stärker die Gefahr der Ausbildung einer neuen hegemonialen Meistererzählung, diesmal im Umfeld der EU.

Die Ambivalenz in der jüngsten Kulturgeschichte harter Musik

Ich möchte diese Ambivalenz in der Betrachtung – die Betonung der Wichtigkeit einer europäisch-vereinenden Perspektive bei gleichzeitiger Dekonstruktion von narrativen europäischen Hegemonialansprüchen – auf die Betrachtung der Kulturgeschichte harter Musik perspektivieren. Hierzu möchte ich von einigen höchst aktuellen, europäischen und globalen sowohl kultur- als auch politikgeschichtlichen Beobachtungen empirischer Natur ausgehen – wobei diese Bemerkungen weder methodisch global gültig noch abschliessend theoretisch umformt sind. Wenn man zu Beginn des Jahres 2015 in breiter Perspektive auf die Kulturgeschichte harter Musik blickt, sind zwei Trends, die miteinander in auffallender Korrelativität stehen, bemerkenswert und die Betrachtung bestimmend:

(1) Der erste dieser Aspekte und Prozess besteht darin, dass unleugbar Heavy Metal Musik und alle anderen Genres harter Musik in den Mainstream der globalen Populärkultur vorgedrungen sind; sie sind in dieser allgemein zu Identitäts- und Subjektivierungsprozessen herangezogenen, zwar stark ausdifferenzierten, aber teils auch uniformierenden und nivellierenden Populärkultur, zu künstlerischen Ausdruckformen geworden, die akzeptiert und als “normal” betrachtet werden. Diese Aufnahme in den Mainstream bedeutet, dass die Kulturgeschichte harter Musik zwar auch teils heute noch die Geschichte von Subkulturen ist, vor allem aber auch, dass harte Musik “salonfähig” geworden ist. Hält man sich vor Augen, dass die Entstehung einer breit wirksamen “Szene” harter Musik vor allem seit den frühen 1980er-Jahren ursprünglich eine Geschichte und Erzählung von Rebellion,  “Anders-Sein” und Aufbegehren gegen traditionelle bürgerliche Konventionen sein sollte, ist dies höchst bemerkenswert.

Aus einer einstigen gegen die popkulturelle Hegemonalität zeitgenössischer Kultur und Musik geformten Kulturbewegung wurde ein Teil einer neuen, europäisch zugleich globalen Populärkultur, deren integralen Bestandteil sie heute bildet. Dies spricht für Öffnung, Annäherung und Transformation von Mainstream und der Kultur harter Musik zugleich; es spricht für eine Ambivalenz, in der sich das “Bürgerliche” dem subversiv-rebellischen Geist öffnete und sich dieser zugleich die Vorzüge der Akzeptanz der Aufnahme in den popkulturellen Kanon zueigen machte. Es handelt sich um eine kulturgeschichtliche Dialektik, die sich zwischen Anpassung, Öffnung und Akzeptanz auf beiden Seiten einordnen lässt.

Dieser Prozess erfordert auf allen Seiten der beteiligten AkteurInnen ein Neuverordnen in der Kultur überhaupt, dessen Ende noch offen ist. Sinnfälligstes Beispiel dieses neuen Eingehens von harter Musik in den Mainstream ist etwa, dass der deutsche Schlager- und Volksmusiker Heino – oft als  Symbolfigur des “Spießertums” gescholten – spät im Jahre 2014 unter dem Titel “Schwarz blüht der Enzian” ein ganzes Album veröffentlichte, indem er seine Stücke in die Klangfarbe und Ästhetik harter Musik hüllte. Es folgte ein Aufschrei in der “Szene”, die Heino “Geschäftemacherei” vorwarf und genau hierin findet sich jene bemerkenswerte Ambivalenz wieder: Der Mainstream wird durch die Kulturform der harten Musik reicher und vielfältiger; zugleich fordert das den einstigen ProponentInnen und MultiplikatorInnen der Subkultur aber eine Neuformierung ihrer gemeinsamen Identität ab, die bisher in der Exklusion des “Spießigen” aus ihrer imagined community bestand. Dieser Prozess ist derzeit prägend, er lässt sich als Eingang in den Mainstream auf den Punkt bringen.6

(2) Der zweite bemerkenswerte und prägende Prozess besteht darin, dass sich in den letzten Jahren eine starke Verwissenschaftlichung in der Rezeption und Beschäftigung mit harter Musik entwickelt hat. Vor allem seit dem Kalenderjahr 2014 ist eine neue Institutionalisierung des Diskurses der wissenschaftlichen Beschäftigung  mit harter Musik zu beobachten, die über die Konfiguration eines akademischen Randphänomens weit hinausgeht. Fanden bisher zwar teils monographische und auch einzelne Aufsatzbeiträge in Büchern und Zeitschriften durchaus auch Anklang in der Forschungskultur, so beschleunigte sich dieser Diskurs speziell im Jahre 2014 auf enorme Weise. Seit Oktober 2014 erscheint unter dem Titel “Metal Music Studies” ein eigenes peer-reviewed Journal der “International Society for Metal Music Studies”, die somit ein institutionalisiertes Forum der Forschung und Publikation gefunden hat.7 Brian Hickam drückt dies in einem Artikel in der ersten Ausgabe des Journals folgendermaßen aus:

The consensus of the scholars interviewed for this article and myself is that before 2008 we had publications, or studies, on heavy metal, but we did not have ‘heavy metal studies’. A field of study was not something this group had envisioned. Even after Keith Kahn-Harris’s 2007 book on extreme metal [vgl. ders.: Extreme Metal. Music and Culture on the Edge. Oxford 2007, P.P.], it was generally expected that we would work in our various fields and that we would occasionally present on metal at conferences, and publish in journals, defined by those fields. Niall W. R. Scott and Rob Fisher’s successful 2008 international conference, the first on heavy metal music [Vgl. hierzu: Niall W. R. Scott u.a. (Hg.): The Metal Void: First Gatherings. o.O. 2009; online unter: https://www.interdisciplinarypress.net/online-store/ebooks/diversity-and-recognition/the-metal-void, abgefragt am 17.01.2015, P.P.], changed outlooks, expectations, ambitions and career plans.8

Dieses Zitat fängt die Ambivalenz, die mit der Grundlegung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit harter Form im Diskurs der Metal Music Studies verbunden ist, auf höchst anschauliche Weise ein. Vor allem das zweite Halbjahr 2014 stellte eine wirkliche Zäsur in  dieser Geschichte dar: Der Diskurs in der “scientific community” beschleunigte sich um ein Vielfaches und die wissenschaftliche Beschäftigung mit harter Musik in all ihren Erscheinungsformen fand einen medialen wissenschaftlichen Öffentlichkeitsort in diesem Journal. Dieser Prozess der Etablierung und auch Institutionalisierung des Diskurses ist ein höchst zweischneidiger: Er macht die wissenschaftliche Beschäftigung mit Metal Musik wichtig, angesehen und “salonfähig” im europäischen und globalen “Getriebe” der wissenschaftlichen Welt; zugleich jedoch wird das Feld damit viel stärker als bisher mit Macht- und Politikfragen durchzogen und durch diese neu vermessen. In diesem neuen Feld entsteht die Frage, wer die Deutungshoheit über die Kulturgeschichte harter Musik innehat, welche Karrierechance mit der Arbeit in diesem Feld möglich sind und was schließlich die politische Bedeutung und Ausrichtung des Diskurs sind. Die Verwissenschaftlichung des Feldes bedeutet also eine gundsätzliche Ambivalenz zwischen steigender kultureller Anerkennung und Bedeutung sowie dem beginnenden Kampf um die politische Deutung des Felds.

Ich denke, es macht nur Sinn, diese beiden Phänomene in der derzeitigen Kulturgeschichte harter Musik – (1) den Eingang in den Mainstream sowie (2) die Verwissenschaftlichung des Felds – als kulturelle Prozess zu betrachten, die zwar existentiell ambivalent sind, aber in enger Vernetzung stehen und einen gemeinsamen Richtungsvektor aufweisen. Dieser Richtungsvektor – der keinesfalls als determinierte Teleologie verstanden werden sollte – weist in die Richtung, dass die Kultur der harten Musik in die diskursiven  Zentren der globalen, aber auch europäischen Gesellschaft vorgerückt ist. Dies bedeutet, dass die Kultur harter Musik zur elementaren Architektur der heutigen Welt integral dazugehört. Dies bedeutet inhärente Ambivalenzen, die mit der Etablierung in dieser Welt verbunden waren, die es zu lösen gilt. Ich möchte die Bedeutung dieses umfassenden Prozesses, der durch den (1) Eingang in den Mainstream beziehungsweise die (2) Verwissenschaftlichung gekennzeichnet ist, in Bezug auf Europa und die Europäizität des Felds diskutieren. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesem Prozess für das momentane politische und kulturelle Zusammenleben in Europa, also vor allem der EU, erschließen?

Europa und die Europäische Union zu Jahresbeginn 2015

Wenn man derzeit auf das Zusammenleben in Europa in Form der Europäischen Union blickt, kann man sich nicht erwehren, Angst zu haben, Unsicherheit zu entwickeln und Kritik zu üben. Am 7. Jänner 2015 kam es zu einem kulturell und politisch folgenreichen Anschlag  auf die Pariser Satirezeitschrift “Charlie Hebdo” durch radikalisierte, islamistische Terroristen, die die Zeitschrift als Ziel ausgemacht hatten, da sie Karikaturen des islamischen Propheten Mohammed abgedruckt hatte. Es starben in der Kette dieses Anschlags zwölf Menschen und sie erwiesen sich als in ein internationales terroristisches Umfeld des radikalen Islamismus eingebettet. Es folgten auf den Anschlag die Tötung der Terroristen zwei Tage später durch Sicherheitskräfte. In ganz Europa entwickelte sich ein Diskurs, der unter dem Motto “Je suis Charlie” Solidarität mit den Opfern der TerroristInnen bekundete und sich vor allem in Europa im Web verbreitete. Es folgte die kulturgeschichtlich scheinbar nicht ausbleiben könnende Diskussion um eine mögliche “grundsätzliche Verbindung” zwischen Islam und Terrorismus; viele muslimische Gruppen sahen sich förmlich genötigt, eindeutig zu den Ereignissen Stellung zu nehmen.

Das Handeln, Schreiben und Sprechen im Sinne von “Je suis Charlie” wurde zu nicht weniger als einem eigenen Diskurs, der einen Kristallisationsraum darstellt, in dem zahlreiche Konflikte unserer Gegenwart zu Tage treten. Es handelt sich um die Konflikte zwischen Radikalen und FundamentalistInnen auf der einen sowie Libertären auf der anderen Seite, zwischen “Erster Welt” und “Zweiter Welt” sowie “Dritter Welt”; scheinbar sind mit dem Ausspruch “Je suis Charlie” all jene kulturell existenzbedrohenden Konflikte gemeint, die in den 1990er-Jahren als “Kampf der Kulturen” gebrandmarkt wurden. Kurz, Europa findet sich zu Beginn des Jahres 2015 nicht nur in einer Ambivalenz, sondern in einer grundsätzlichen sozialen Konflikt- und Spannungssituation, die es zu lösen gilt. Es gilt, sie im Diskurs zu lösen. Können hierzu Aspekte und Impulse beitragen, die aus und in der Europäizität der Kulturgeschichte harter Musik bestehen?

Konfliktlösungsmodelle in der Kulturgeschichte harter Musik in Europa nach 1945 – ein “Lernfall” für Europa und die Europäische Union im Jahre 2015?

Blickt man auf die Kulturgeschichte der harten Musik nach 1945, so sind zuerst zwei Aspekte offensichtlich – (1) erstens, lässt sich diese Geschichte nicht allein auf Europa beschränken. Sie hat globale Ausmaße und Aspekte, die mit der allgemeinen Globalisierung der Geschichte und Welt vor allem nach dem Fall des Kommunismus ab 1989 zusammenspielten. Harte Musik ist demzufolge nicht nur “Europamusik”, sondern auch “Weltmusik”. Dennoch gibt es, (2) zweitens, auch wesentliche und wichtige Aspekte, Eigenschaften und Prozesse dieser Geschichte, die sich vor allem in Europa (was immer man darunter verstehen mag; es ist sinnvoll sich jeweils am geschichtlichen Entwicklungsgrad der europäischen Integration nach 1945 zu orientieren) herauskristallisierten und somit vor allem Elemente europäischer Geschichte und Träger von Europäizität sind. Hierbei ist eines sehr auffällige geographische Konstellation zu bemerken, die möglicherweise auch auf die Ausformung der mental maps Europas nach 1945, vor allem um 1968 sowie um 1989 rückschließen lässt. Schwerpunkte der Entwicklung waren nämlich zuerst vor allem Großbritannien seit den späten 1960er-Jahren, dann Zentraleuropa mit Deutschland ab den frühen und mittleren 1980er-Jahren und schließlich Skandinavien ab den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren.

Ich möchte hierzu einige Beispiele bringen: Zwar kann in der Kulturgeschichte schon Elvis Presley mit dem mit ihm verbundenen Nimbus des Rebellischen seit den 1950er-Jahren als früher Vertreter harter Musik gelten, doch folgte die “Geburt” dieser Kulturgeschichte vor allem in Großbritannien seit den 1960er-Jahren. War die Dominanz der E-Gitarre und ihrer Klangwelten schon mit den Beatles von Großbritannien in die ganze Welt ausgestrahlt, griffen auch die Rolling Stones dieses Universum neuer Popkultur auf und radikalisierten es in ihrem Sinne, so kann die Kulturgeschichte ab den späten 1960er-Jahren mit Künstlern wie Black Sabbath, Deep Purple und Led Zeppelin als eigentliche “Geburt” harter Musik verstanden werden. Mit diesen Künstlern lässt sich eine neue, harte Klang-, Bild-, Auftritss- und Textästhetik verbinden, von der man bis heute zehrt. Vor allem Black Sabbath um ihren Sänger Ozzy Osbourne werden als “kulturelle Gegenspieler” der “Hippies” nach 1968 und als “Väter” des Heavy Metal bezeichnet.

Rufen wir uns eines in Erinngerung: All diese Bands und diese neue Kulturform nahmen ihren Ausgang von England, also von Europa. Warum dies gerade in England zur “Geburt” von Heavy Metal führte, ist zumindest diskussionswürdig. Mit seiner “Geburt” im England der späten 1960er-Jahre befand sich Heavy Metal in seinem Entstehungszusammenhang in einem spannungsreichen Verhältnis zu Integrationseuropa. 1973 kam es zur ersten Erweiterung der EWG, die eben auch Großbritannien umfasste, das zu diesem Zeitpunkt wohl einen kulturellen “Hotspot” der Welt darstellte, aber immer noch auch mit dem Niedergang seiner ehemaligen Stellung als dominierende Weltmacht zu kämpfen hatte. Die Europäizität der “Geburt” von  Heavy Metal lässt sich folgendermaßen im Impuls charakterisieren: Im Großbritannien der späten 1960er-Jahre wurde eine europäische Kulturgeschichte auf den Weg gebracht, die heute global wirkt – dies ist eine fundamentale Qualität deren Europäizität.

Verfolgen wir die Geschichte weiter: Nachdem zu Beginn der 1980er-Jahre vor allem wiederum Grobritannien im Zuge der “New Wave of British Heavy Metal” mit Bands wie Judas Priest, Iron Maiden, Saxon usw. Impulse lieferte,9 hierbei auch Anregungen aus dem Punk aufnahm, entwickelte sich vor allem auch – parallel zu Prozessen der Ausdifferenzierung der Genres harter Musik in den USA (Metallica, Slayer, Exodus etc.) – in Zentraleuropa, primär in Deutschland, eine “Szene”, in der sich diese Ästhetik noch radikalisierte. Man wollte lauter, schneller, härter, kurz extremer sein. Hierzu lassen sich neben den Schweizer Pionieren von Celtic Frost vor allem Künstler wie Sodom, Destruction oder Kreator nennen; sie entwickelten die Kultur des Thrash Metal – durchaus in Interaktion mit ähnlich gesinnten KünstlerInnen in den USA – in ihrem Sinne weiter.

Es ging um das Ausloten der Grenzen des Hörbaren, des Sichtbaren und des Sagbaren – und dies ging vor allem in Deutschland, also Europa und Zentraleuropa vor sich. Die Bundesrepublik Deutschland befand sich zwar noch in einer einigermaßen stabilen wirtschaftlichen Situation und verfolgte ihre Westbindung, doch der wirtschaftliche “Boom” der Nachkriegszeit war zur Geschichte geworden. Es liegt assoziativ nahe – was weiter zu erforschen wäre -, dass zwischen der Kulturgeschichte des Verlusts der Sicherheiten des “Booms” und der Radikalisierung der harten Musik ab den 1980er-Jahren zumindest Vernetzungsverhältnise bestanden. Es ist ein “alter Hut”, dass wirtschaftliche Krisenzeiten Radikalisierungsphänomenen Vorschub leisten. Und vergessen wir eines nicht: Die Kulturgeschichte der Radikalisierung harter Musik war somit ein auch europäisches Phänomen. Die Radikalisierung dieser Kulturgeschichte in den 1980er-Jahren trug ebenso zu ihrer Europäizität bei.

Eine letzte Etappe dieser Geschichte sei genannt: Im Soge der Neuausrichtung der globalen Wirtschafts- und Politikordnung seit 1989 (welche natürlich auch die Kulturgeschichte betraf), wurde spezifisch Skandinavien zu einem Epizentrum der Weiterentwicklung harter Musik und verankerte sich tiefer in der mental map dieser Kulturformationen. Nachdem in den 1980er-Jahren in Europa vor allem in Deutschland extremere Spielarten entstanden waren, nahmen viele skandinavische KünstlerInnen gleichsam den Ball auf und entwickelten eine noch intensivere, dunklere, gewalttätigere und extremere Ästhetik, was sich heute vor allem im sogenannten Extreme Metal widerspiegelt.10 Vor allem auch im Skandinavien der späten 1980er-Jahren und frühen 1990er-Jahre differenzierten sich die Subgenres des Black- und Death Metal aus. Wobei mit der Geschichte letzteren – vor allem mit der “Göteburger Schule” des Melodic Death Metal mit Bands wie In Flames, At the Gates, Dark Tranquillity usw. – sicherlich auch struktrurbilde kulturelle Prozesse verbunden waren, die auch zur Europäizität der harten Musik beitrugen.

Ich möchte mich jedoch aus verschiedenen Gründen auf die Europäizität des Black Metal im Skandinavien der frühen 1990er-Jahre konzentrieren. Ich habe mir schon in einem früheren Artikel Gedanken zu dieser Musik gemacht. Black Metal nahm Bahnen auf, die von Bands wie Venom und vor allem aber Celtic Frost grundgelegt worden waren, radikalisierten diese jedoch auf ihre eigene Weise und brachten auch eigenes Gedankengut ein. Auch hier ging es um Radikalisierung, Extremes und Protest. Man nahm Diskurse von Ursprünglichkeit, Authentizität, “Heidentum”, Satanismus, Nihilismus sowie allgemeiner Misanthropie wieder auf und schuf einen eigenen kulturellen Ort, der vorerst nur der Ort der MusikerInnen und ihres Publikums sein sollte. Es wäre tiefer zu erforschen, ob die Schaffung dieses neuen kulturellen Ortes mit der allgemeineren Geschichte Skandinaviens, vor allem Norwegens, zusammenspielte. Ein möglich Gedanke hierzu findet sich darin, dass gerade in Skandinavien auch durch die scheinbar so naheliegende Bedrohung durch die Sowjetunion vor 1989 mit dem Wegfall der kulturellen Strukturbilder und -narrative des Kalten Kriegs gleichsam ein Orientierungsmangel entstanden sein könnte, der diesen Prozessen möglicherweise Vorschub leistete. Dies hat den Charakter eines hypothetischen Ausgangspunktes und wäre weiter zu erforschen. Außer Zweifel steht, dass mit dem Entstehen des skandinavischen Black Metal, also wiederum in Europa, eine weitere Dimension der Europäizität harter Musik begründet wurde.

Ich komme nun zum Kern meiner Überlegungen zur Europäizität der Kulturgeschichte harter Musik nach 1945: Die drei kursorischen Beispiele der Entwicklung nach 1945, die ich genannt habe, sind alle als Reaktionsprozesse auf kulturgeschichtliche Situationen zu verstehen, die durch grundlegende Ambivalenzen, wenn nicht gar durch Konfliktuöses gekennzeichnet waren. Die “Geburt” von Heavy Metal im Großbritannien der späten 1960er-Jahren ist vor allem auch als Reaktion und Lösungsversuch der Konflikte und Ambivalenzen zu sehen, die mit der Popkultur um 1968 verbunden waren. Man hob sich  von den “Hippies”, vom “Summer of Love” und all seinen Erscheinungen ab und wollte zurück zur Erfahrung der Realität, die auch im Dunklen, Harten und Monotonen der “westlichen” kapitalistischen Gesellschaften bestand. Die Lösung, die man für diese ambivalente Situation vorschlug, war nicht weniger, als dieses Dunkle, Harte und Monotone zur gemeinsamen kulturellen Identität hinzuzufügen, indem man es kulturell bearbeitete.

Gehen wir weiter zu meinem zweiten Beispiel: In den 1980er-Jahren war vor allem auch in Westdeutschland, hier vor allem im (post-)industriellen “Ruhrpott”, die europäische Version des Thrash Metal entstanden. Seine ambivalente kulturgeschichtliche Formierungsphase bestand in dem Wunsch schneller, härter und extremer zu spielen, um einerseits das bereits vorhande “kulturelle Erbe” der ersten Welle des Heavy Metal mit Black Sabbath usw. weiterzutragen; anderseits fand man sich im Konflikt mit den sich ausdifferenzierenden “Popper”-, New Wave-, Elektro- und Gothic-Kulturen, von deren oft “einfacher” Welt des Mainstreams man abkehren wollte. Man befand sich also in einer hochgradig zweischneidigen und ambivalenten Kultursituation, die sich zwischen den Bedürfnissen auspannte, die Tradition der ersten Welle des Heavy Metal fortzusetzen und zugleich eigene Formen des kulturellen Protest gegen den Mainstream zu etablieren. Die Lösung, die man im Zentraleuropa des deutschen Thrash Metal der frühen und mittleren 1980er-Jahre fand, bestand ebenso darin, neue, noch extremere Inhalte und Ästhetiken des Gewalttätigen, des Harten und Abgründigen in die gemeinsame kulturelle Identität einzuschreiben. Die gefundene Lösung des Konflikts und der Ambivalenz bestand also auch hier darin, die Konflikte durch kulturellen Diskurs zu erarbeiten, abzubilden und schließlich in einer neuen Identität – jener des Thrash Metal – zu überwinden.

Ich habe ein drittes und letztes Beispiel im Black Metal der frühen 1990er-Jahre genannt. Auch dessen Entstehung war durch Konflikte und Ambivalenz geprägt: Man wollte weg vom Christlich-Bürgerlichen, hin zu neuen, aber auch ans “Ursprüngliche” und “Authentische” angelehnte Kulturen, die zum Gewohnten in radikaler Opposition standen. Der Konflikt, der sich im Umfeld des skandinavischen Black Metals in seiner Formierungsphase der frühen 1990er-Jahre auftat, bestand darin, einerseits auf Gegebenes zurückgreifen zu müssen (bestehende Satanismus-, Paganismus-, Misanthropie-, Anarchismus-, “Ursprünglichkeits”-Diskurse), anderseits jedoch das Ziel zu haben, etwas vollkommen neues schaffen zu wollen.

Ich denke, vor allem dieser Diskurs des Black Metal in Europa bis heute hat in der Auflösung des Konfliktuösen und Ambivalenten Enormes geleistet: Er hat sich zu einem Diskurs entwickelt, in welchem sich scheinbar fundamental widersprechende kulturelle Leitmuster (etwa eine häufige homophobe Grundhaltung bei einer synchronen und strukturellen Kulturtoleranz gegenüber dem offenen Leben von Homosexualtität; es handelt sich also um nicht weniger als die Entwicklung eines genuin neuen Modells kultureller Konfliktlösungsleistung) in einer positiven Vernetzungsform wiederfinden. Man hat also gelernt, kulturelle Differenz, Konflikt und “Anders-Sein” nicht nur grundsätzlich zu akzeptieren, sondern als gegebene Verfassung der momentanen kulturgeschichtlichen Gegenwart zu leben. Gruppensteuerung und “Governance” der Gemeinschaft der Subkultur erfolgen durch ein höchst anspruchsvolles Wechselspiel von gemeinsam getragenen medialen, vor allem digitalen “Szene”-Diskurs und individuellem Handeln. Man löst strukturelle Kulturkonflikte des Seins, indem man sich akzeptiert und selbstorganisiert Identität und Stellung bezieht – wenn etwa ein homophober Black Metal-Fan sich zugleich als Fan eines schwulen Black Metal-Musikers sieht, löst er den Konflikt auf, indem er Musiker Musiker und Fan Fan sein lässt. Es geht also um die Arbeit an der Ambivalenz und am Konflikt durch Gespräch, Abbildung und Diskurs. Nur eine Kultur, die strukturelle Ambivalenz und Konflikte so bearbeitet, kann sie erfolgreich meistern.11 In diesem Konfliktlösungsmodell besteht ein Hauptzug der Europäizität harter Musik nach 1945. Man könnte dieses Konfliktlösungsmodell als strukturelle Ambigutätsresilienzstrategie der europäischen Kulturgeschichte harter Musik betrachten.

Gehen wir zurück zum Europa um den Jahresbeginn 2015: Die Ambivalenz und die Konflikte haben sich verschärft – MuslimInnen scheinen gegen alle anderen Gruppen zu stehen, Radikale gegen Liberale, Pro-EuropäerInnen gegen Europa-SkeptikerInnen und -kritikerInnen, kurz, es tun sich rundum Gräben von Ambivalenzen und Konflikten auf. Wie werden wir diese überwinden? Könnte nicht ein verfolgenswerter Lösungsansatz darin bestehen, sich die Integrationsleistungen der Kulturgeschichte harter Musik zum Vorbild zu nehmen? Geht es nicht um die Arbeit an der Ambivalenz und am Konflikt durch Gespräch, Abbildung und Diskurs? Kann nicht nur eine Kultur, die strukturelle Ambivalenz und Konflikte so bearbeitet, sie erfolgreich meistern? Ist die Europäizität der Kulturgeschichte harter Musik, vor allem des skandinavischen Black Metals, ein “Lernfall” für Europa im Jahre 2015? Vielleicht besteht in diesen Fragen zumindest eine Aufforderung zum Nachdenken über Antworten. Es wäre folglich umfassend zu bedenken und zu erforschen, was die erfolgreiche europäische Ambivalenzkultur dieser Geschichte (jener der Black Metal-Subkultur) ermöglichte und auf den Weg brachte.


  1. Vgl. hierzu für den deutschsprachigen Diskurs vor allem: Wolfgang Schmale: Geschichte Europas. Wien u.a. 2000; sowie: ders.: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität. Stuttgart 2008; und: Achim Landwehr/Stefanie Stockhorst: Einführung in die europäische Kulturgeschichte. Wien. u.a. 2004; sowie spezifisch für die europäische integration in konzeptioneller Hinsicht: Peter Pichler: Acht Geschichten über die Integrationsgeschichte. Zur Grundlegung der Geschichte der europäischen Integration als ein episodisches historiographisches Erzählen. Innsbruck u.a. 2011; sowie in diskursorientierter Perspektive: ders.: Leben und Tod in der Europäischen Union. Innsbruck u.a. 2014. 

  2. Vgl. hierzu insbes. folgende Tagungsbericht zu einer Fachtagung in Rom im Jahre 2010 zum Thema “die erste Blütezeit der modernen Europahistoriographie”: online unter: http://www.h-net.org/reviews/showpdf.php?id=30720, abgefragt am 17.01.2015. 

  3. Vgl. hierzu grundlegend folgenden Artikel: Wolfram Kaiser: Vom Staat zur Gesellschaft. Zur Historiographie der europäischen Integration. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterrichte 11 (2004), S. 663-679; kritisch auch: Peter Pichler: Identity Through History? European Integration History as a Protagonist in the Construction of a European Identity. In: Marloes Beers/Jenny Raflik (Hg.): Cultures nationales et identité communautaire. Un défi pour l’Europe?/National Cultures and Common Identity. A Challenge for Europe. Brüssel u.a. 2010, S. 161-172. 

  4. Vgl. hierzu für Europa: Ulrich Beck/Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt/Main 2004. 

  5. Vgl. ebd. 

  6. Vgl. etwa die Rezension von “Schwarz blüht der Enzian” am “Szene”-Portal www.metal.de, der diese Ambivalenz illustriert: online unter: http://www.metal.de/gothic-darkwave/review/heino/59679-schwarz-blueht-der-enzian/, abgefragt am 17.01.2014. 

  7. Vgl. zur Homepage der “Society”: www.facebook.com/pages/International-Society-for-Metal-Music-Studies/155690037851820, abgefragt am 17.01.2015; sowie die Website des Journals: www.intellectbooks.co.uk/journals/view-Journal,id=236/, abgefragt am 17.01.2015. 

  8. Brian Hickam: Amalgamated anecdotes: Perspectives on the history of metal music and culture studies. In: Metal Music Studies 1 (2014), S. 6. 

  9. Vgl. hierzu: Matthias Mader: New Wave of British Heavy Metal. 2 Bde., Berlin 1995 und 1997. 

  10. Vgl. wiederum: Kahn-Harris, Extreme Metal. 

  11. Vgl. hierzu auch in besonderer Aktualität: Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011.