In meinem letzten Beitrag in diesem Blog ist es mir darum gegangen, in grundlegender Weise einige Fragen und Aspekte zu skizzieren, inwiefern sich der ältere, aber auch der jüngere radikale Konstruktivismus in epistemischer Sicht als Reduktionismen zeigen. Die Antwort  auf diese Frage (die eigentliche einer erweiterten Fragenstelllung gleichkommt und somit im Effekt auf die Zukunft der einschlägigen Forschungen verweist) habe ich so formuliert, dass der Konstruktivismus, wie er derzeit die Kulturwissenschaften dominiert, insoferne einen epistemischen Reduktionismus darstellt, als dass er historische Wirklichkeit nur und allein als Ergebnis diskursiver Konstruktion betrachtet. In der pointierten Zuspitzung bedeutet dies, dass historische Wirklichkeit ein Prozess ist, der nur durch die kulturelle Kommunikation entstehe.

Zwar mögen sich Vergangenheitsspuren auch im Diskurs finden, doch ist damit die Gestalt dessen, was uns als historische Realität entgegentritt, nur durch die kommunikative Konstruktion gekennzeichnet. Alles ist Diskurs, alles wird im Diskurs konstruiert. Dass dies eine reduktionistische und gelinde gesagt höchst idealtypische, eigentlich sogar fiktive und mythische Forschungserzählung der KonstruktivistInnen seit dem Ende der 1980er-Jahre ist, ist – so denke ich – bereits intuitiv ersichtlich. Geschichte ist nicht nur Verhandlung im kulturellen Diskurs, sondern auch persönliche Lebenserfahrung von Menschen als Indidividuen sowie nimmt die Form von Vergangenheitsspuren an, die sich in die Materialität der Quellen und Überreste förmlich “einbrennt”.

Es geht mir nicht darum, den Konstruktivismus sowie all seine begleitenden Spielarten des heutigen Theoriediskurses gleichsam als nutzlos zu punzieren. Es steht ausser Zweifel – beginnend mit der Neuen Kulturgeschichte seit 19891 hat der Konstruktivismus als verklammerndes Epistem der poststrukturalistischen Kulturwissenschaften vieles und höchst wichtiges an Neuerungen und perspektivischem Wechselspiel eingebracht.2 Es steht für mich ausser Zweifel, dass die grundlegende Forschungsperspektive vor allem des radikalen Konstruktivismus, dass Wirklichkeit immer auch etwas “handgemachtes” und ein mit strategischen Machtinteressen von Politik und Gesellschaft verbundenes Konstrukt ist, die Kulturgeschichte förmlich zu einem neuen Erkenntnishorizont führte.

All dies betrifft in der dominanten Theoretisierung bis heute vor allem die kommunikative Dimension kulturgeschichtlicher Forschung. Ich denke, vor allem der radikale Konstruktivismus ist sehr gut dazu geeignet, diese sprachliche, erzählerische und gesprächsförmige Dimension von historischer Wirklichkeit zu erfassen, die den Forschungsgegenstand mithin überaus erst hervobringt. Es geht in diesem Zusammenhang immer um die sozialen und kulturellen Macht- und Diskursmechanismen, die am Wirken sind, wenn in der Forschung über kulturelle Wirklichkeiten verhandelt wird.

Dies ist in meinen Augen jedoch bei Weitem noch nicht alles, wenn es darum geht, kulturgeschichtliche Prozesse einigermaßen angemessen zu theoretisieren. Der (radikale) Konstruktivismus erfasst lediglich die erste Dimension von etwas, das ich als “Triptychon historischer Wirklichkeit” bezeichnet habe. Geht es darum, die Kulturgeschichte harter Popmusik als einen “kulturellen Ort” zu erfassen, an welchen sich KünstlerInnen, VermittlerInnen und Publikum begeben können, wenn sie das selbstorganisiert und in Freiheit wollen, dann umfasst dieser kulturgeschichtliche Prozess zumindest drei Dimensionen eines theoretischen Triptychons: (1) Erstens geht es eben um “diskursive Konstruktion”. Historische Wirklichkeit besteht in der kommunikativen Dimension darin, dass sie auch im Diskurs verhandelt und ausgebildet wird. Dies erfolgt vollkommen im Sinne des radikalen Konstruktivismus, ist aber nicht das “Ende der Fahnenstange”.

In meinen Augen ebenso wichtig für die Ausbildung historischer Wirklichkeit sind (2) “individuelle, subjektive und persönliche Erlebensmomente”. Dies bedeutet, dass persönliches und in diesem Sinne oft vor allem emotionales Erleben nicht nur eine unwichtige Begleiterscheinung diskursiver Konstruktion sind, sondern mithin die Realität der harten Musik ausmachen. Die jüngere kulturgeschichtliche Forschung weist bereits teils in dieser Richtung.3 Auch ich habe bereits früher in diese Richtung gedacht.4

(3) Drittens schließlich geht es in der Hervorbringung und Beschreibung wissenschaftlicher Realität immer auch um “materiale Momente”. Dies bedeutet, dass Quellen und welchen Vergangenheitsspurem auch immer sich die Kulturgeschichte harter Musik zuwendet (Fan-Shirts in ihrer “Textilität”, CDs in ihrer Haptik, Fan-Plakate, Fan-Flaggen usw.), durch enorme Momente von Materialität und Stofflichkeit gekennzeichnet sind. Diese Vergangenheitsspuren des Materials sind diesen Quellenformen inhärent und kennzeichnen das Erleben von harter Musik als kulturgeschichtlicher Realität in nicht zu unterschätzendem Maße.5

Ich möchte diese drei Aspekte, die das “Triptychon historischer Wirklichkeit”  prägen, an dieser Stelle einführend aus empirischer Sicht behandeln. Es geht mir dabei anhand von einem herausragendem Beispiel aus der jüngsten Kulturgeschichte harter Popmusik darum, zu beleuchten, inwiefern diese empirischen Ströme gegenwärtiger Populärkultur als solche Trias erzählt werden können. Dabei steht ein zentrales Anliegen im Fokus: Das Beispiel, das ich anführen werde, wurde im subkulturellen Diskurs der Kulturgeschichte harter Musik (Fanblogs, Fanforen, Reviews in Magazinen usw.) als künstlerisch höchst wertvoller Beitrag typisiert, dem eine existententielle Dimension für KünstlerInnen, VermittlerInnen sowie schließlich dem Publikum innewohne.

Wie ist es empirisch zu erklären, dass dieses Beispiel von vielen Menschen der heutigen Postmoderne der Europäisierung und Globalisierung nach 1989 als existentielle Erfahrung, also als nicht weniger denn lebensrelevante Erfahrung möglicher Subjektivierungsformen betrachtet wird? Wie ist es erklärbar, dass dieses Beispiel Identität stiftet? Ich denke, die empirische Anwendung der Theorie des “Triptychons historischer Wirklichkeit” kann hierzu erhellend wirken.

Behemoths “The Satanist”

Das neue Album der polnischen Extreme-Metal-Gruppe Behemoth, “The Satanist”, wurde am 31. Mai 2013 angekündigt. Zwischen Februar und Juni 2013 wurde es an verschiedenen Orten in Polen aufgenommen. Es wurde schließlich in den ersten Februartagen des Jahres 2014 veröffentlicht. Hauptperson, gleichsam “Kopf” der Gruppe, ist Sänger und Gitarrist Adam Michal “Nergal” Darski, der in der Biographie der Gruppe seit den frühen 1990er-Jahren die Konstante darstellte. Behemoth, ursprünglich firmierend unter dem Namen Baphomet, sind bis heute das Gesamtkunstwerk des Künstlers “Nergal”. Zuerst präsentierte man sich – auch im Rahmen der engen wirtschaftlichen Grenzen, die dem künstlerischen Schaffen in den 1990er-Jahren für Behemoth noch gesetzt waren – vor allem als reine Black Metal-Formation. Dies bedeutete eine klare Ausrichtung des Klangs und der Selbstrepräsentation der Band auf ihren Konzerten.

Die Band entwickelte sich seit ihrer Frühzeit – angeführt durch den Künstler “Nergal” – konstant weiter und lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum mehr eindeutig in die “Schublade” des Black Metal stecken. Zwar ist heute und seit einigen Jahren wieder das Thema des Satanismus die Haupteinflussquelle der Kunst “Nergals”, doch ist die Musik aufgrund ihrer Atmosphärik und ihrer Vielfältigkeit sowie der klaren Produktion, was vor allem am jüngsten Werk “The Satanist” aus dem Jahre 2014 augenscheinlich ist, kaum mehr als reiner Black Metal zu kennzeichnen. Zwar bringt “The Satanist” das Denken “Nergals” programmatisch-satanistisch auf den Punkt, doch ist – so denke ich – eine Kategorisierung als Extreme Metal für das Wirken Behemoths am sinnvollsten.

“Nergal” war auch im sogenannten “Temple of the Fullmoon” involviert, der als analoge Organisation zum “Inner Circle”, der im Zentrum der “zweiten Welle” des Black Metal in Norwegen gestanden haben soll, gegründet worden war. Später distanzierte sich “Nergal” von dieser Institutionalisierung der polnischen Subkultur, was ihm unter anderem auch Drohungen und Verunglimpfungen einbrachte. Nichtsdestotrotz kann der Satanismus – der in einigen Veröffentlichungen auch mit dem Neuheidentum oder einem “slawischen Stolz” sowie skandinavischer Kultur, Geschichte und Mythologie Skandinaviens hybridisiert wurde – als Konstante in der Kunst Behemoths gesehen werden.

  • (1) “Diskursive Konstruktion” als empirisches Thema

Um Behemoths  “The Satanist” hat sich ein bemerkenswerter Diskurs entwickelt. Vielfach wurde die neue Veröffentlichung als bisheriger Höhepunkt “Nergals” Schaffens bezeichnet. Bald nach dem Release “überschlugen” sich die Szene-Magazine mit Lobeshymnen. So etwa zu lesen auf www.metal.de:

König ist der Titeltrack selbst. Weder Black noch Death sondern schwärzester Rock mit beim ersten Kennenlernen schockgefrierender Melodie, der selbst im Blast-Finale noch den posaunenbehäbigen Trauermarsch zu mimen vermag. Und weder im saxophonbegleiteten “In The Absence Ov Light” noch der gedankenvollen und zugleich unprätentiösen Epik von “O Father O Satan O Sun!” keimt irgendwann die Ahnung auf, irgendetwas könnte den Titel des Fremdelements im Konstrukt von “The Satanist” verdienen. Nicht zuletzt ist dies auch ein Verdienst von Nergals Gesang, dessen Vocals mit hörbar weniger Effekten überlagert sind und somit ihrer gedoppelten Tiefe beraubt wurden. Das Ergebnis ist mitnichten eindimensionaler: was sie an voluminöser Abgründigkeit einbüßen, machen sie an Vielschichtigkeit wieder wett. So direkt, ehrlich und bissig spie Nergal seine Hasstiraden nie.

Faktisch leisten sich BEHEMOTH nicht einen Moment der Schwäche und haben zweifellos ein überaus unerwartetes Album geschaffen, mit dem sie sich ein erhebliches Stück neu erfinden. Zuletzt gelang ihnen dies mit dem unsterblichen “Demigod” – erneut gelingt es Ihnen mit “The Satanist”. Drückten Nergal und BEHEMOTH ihre Sicht der Dinge zuvor hauptsächlich mit aller Macht und technischer Wucht in das Antlitz derer, die nicht hineinpassen, agiert “The Satanist” weitaus organischer, subtiler und durchdringend sinistrer (um das plakative satanisch zu vermeiden), als es alle technische Brutalität der Welt vermag.6

Ähnlich in den Jubel stimmte die Besprechung von www.laut.de ein:

Gott steh uns bei, die Fürsten der Finsternis erheben sich wieder aus den ewigen Abgründen des letzten Höllenkreises, um sterbliche Seelen mit der musikalischen Flammenpeitsche zu martern. Und das besser als je zuvor. Nergal hat seine Krebserkrankung gut überstanden und sich wohl gedacht: Weg mit allen Beschränkungen, mehr Experimente! Wenn nicht jetzt, wann dann?

(…)

Dermaßen viele Details weben Behemoth in ihren Sound ein, dass man bei jedem Durchgang Neues entdeckt. Die vier Produzenten schaden dem Album nicht, es klingt modern und breit, fernab vom klinischen Metalsound anderer Veröffentlichungen, bedacht auf die kleinen Finessen – und dabei trotzdem fett und mächtig.

Mit “In The Absence Ov Light” hat dieses Mal nur ein einziger Ov-Song Einzug in die Tracklist gehalten – der hat es dafür in sich: Verbrannte Erde, wo das Auge hinschaut. In der Mitte der ausgelöschten Landschaft sitzt Nergal auf einem Ascheberg, zupft auf einer Akustikgitarre und spricht Polnisch. Und – mein Gott – ist das wirklich ein Altsaxofon? Jede andere Band würde dafür gepfählt, aber es passt tatsächlich.

Selten war es schwerer, einzelne Stücke hervorzuheben. “The Satanist” ist ein Gesamtkunstwerk schwerer, harter Metallmusik, das erlebt und erfahren werden will. Wer das 2014 noch übertreffen will, muss sich verdammt anstrengen.7

Der existentiellen Dimension des Werks nahe rückt schließlich ein Beitrag im Blog “Steel for Brains”, der Lied für Lied die Lyrics “Nergals” auf “The Satanist” analysiert:

Referencing the Book of the Revelation of Saint John the Divine is such a well-worn tactic utilized by an almost endless number of extreme metal bands that those artists and bands who employ a depth of knowledge and, daresay, appreciation for the book’s imagery are too often lumped in with those whose understanding of apocalyptic mythos is relegated to brief glances at a Wikipedia page.  This isn’t to say that there’s some horseshit hierarchy to heavy metal lyricism.  There’s just as much to appreciate and pontificate over with simply appreciating good heavy music featuring lyrics that, for better or worse, read like a medieval bedtime story.  Lyrics matter.  Lyrics don’t matter.  The argument itself doesn’t matter.  What’s fascinating, though, are those artists and musicians whose lyrical grasp of biblical mythos goes far beyond the spectacle of devilry and apocalyptic horror.  Over the course of Behemoth’s now ten full lengths, front man Nergal has continually applied what can only be assumed is his fairly comprehensive knowledge of mythology and religious history into each and every lyric.

Born Adam Darski and raised in the Catholic religion, it might be too easy to assume that Nergal’s apparent seething hatred for Christianity is born out of some aversion to the confines naturally brought on by Western religions.  A quick glance at any article or interview with Nergal reveals a man as fascinated with the complexities and history of religion as he is disgusted with what he sees as its oppression of human intellect and freewill.  Behemoth’s previous releases have seen the religious subjects of Nergal’s lyrics focus on a fairly broad array of characters (the Grecian Dionysus in “Daimonos,” Hindu’s Kali Ma in “Arcana Hereticae,” and ancient Egypt’s Set/Seth in “Sculpting the Throne ov Seth” – to name just a few).  The dynamic has shifted with Behemoth’s most recent release, The Satanist, and it’s a change that brings immense focus both lyrically and musically to what’s arguably the best album Behemoth have ever created.  Where Nergal’s previous lyrics spanned across various permutations of Eastern and Western religions alike, The Satanist, finds the multi-instrumentalist and vocalist honing in all manner of focused vitriol on Christianity.

There’s an immediate sense of absolute resolve within the first moments of The Satanist, and it’s hard not to consider the sheer will power and determination of the man snarling his way through every line.  Nergal’s already well-known abysmal howl is pitched to new realms of darkness against the paced but vicious music on The Satanist, and while the lyrics here are admittedly secondary to the music itself, the message of defiance is loud and clear, whether it be the allegorical resistance against an imaginary oppressive god or the fight against a very real enemy in leukemia.  While the story itself is moving and heartfelt, Nergal’s health issues don’t grant him a free pass as an artist.  In fact, that very context may very well add another layer of pressure on those artists or musicians who feel that the shadow of their celebrity or fame is extending even further past the art or music they’re hoping to produce.  For Behemoth, escaping that shadow or perhaps reassuring any who might have doubted that the band or Nergal himself was capable of tapping into those same veins of monstrosity simply meant writing The Satanist.  It’s Behemoth sounding more focused than they ever have, and it’s an album that shows defiance at its most triumphantly blasphemous.8

Mit diesen drei Rezensionsstimmen rücken wir der kommunikativen Dimension von Behemoths “The Satanist” erheblich näher. Viele der Szene-Stimmen in Zeitschriften, Webportalen, Blogs usw. kennzeichneten “The Satanist” als überragendes und existentielles Beispiel extremer Rockmusik. Dies bedeutet, dass im kommunikativen Diskurs um “The Satanist” ein Raum geschaffen wurde, der einerseits den Künstlern um “Nergal” intertextuell rückversicherte, dass ihre Kunst überragend und existentiell wichtig sei. Zugleich rückten damit die medialen VermittlerInnen dieser Botschaften, dieses Kernnarrativs zur sozialen und kommunikativen Wirklichkeit des Albums, mit ihrer diskursiven Macht als “ExpertInnen”  dieses Attribut der künstlerischen Ausnahmestellung Behemoths in den Vordergrund.

Damit wurde, drittens, dem Publikum, das die CD kaufte oder im Web herunterlud oder ein Konzert Behemoths im Laufe des Jahres 2014 besuchte, ein kommunikativer und identitärer Raum angeboten, in welchem das Publikum einen Teil ihrer subkulturellen Identitäten entwerfen konnte. All dies betraf die Dimension der (1) diskursiven Konstruktion im Diskurs um “The Satanist”; dieses Album konnte als existentiell erfahren werden, da der soziokulturelle Diskurs Sprachressourcen zur Verfügung stellte, das Album als solch hochwertige Form der Kunst zu erfahren. Dies macht die erste, diskursiv-konstruktive Form der Subjektivierung aus, die Behemoth seit dem Februar 2014 ermöglichten. Kurz, empirisch betrachtet ist “The Satanist” existentiell, weil der Diskurs um das Album es als existentiell konstruierte.

  • (2) “Individuelle, subjektive und persönliche Erlebensmomente” als empirisches Thema

Dies ist jedoch bei weitem noch nicht alles, wenn es darum geht, zu ergründen inwieferne es das Album “The Satanist” verschiedensten Personengruppen (KünstlerInnen, VermittlerInnen, HörerInnen usw.) ermöglichte, existentielle kulturelle Bedeutungsspuren  für das individuelle Leben zu finden. Dies findet sich einerseits sicherlich in den tiefgreifenden Lyrics “Nergals”, die schon weiter oben zur diskursiven Konstruktion von Existentialität im Rahmen von “The Satanist” erwähnt wurden. (2) Zweitens jedoch ermöglichte es der lebenspraktische kulturgeschichtliche Wirklichkeitsraum, der im Hören, im Sehen, im Lesen, allgemein im individuellen und persönlichen Erleben von “The Satanist” enstand, in individueller Form Sinn zu erfahren.

Vor allem dem Publikum bot “The Satanist” Lebenschancen, individuelle, subjektive und persönliche Erlebensmomente zu erfahren, die als genauso existentiell denn die kommunikative Dimension des Album wirkten. Hier ging  nicht darum, einen kulturellen und sozialen Diskurs zu führen, in dem die Existentialität des Werks diskursiv verhandelt wurde, sondern um die individuelle Erfahrung von Erfahrungsprozessen, die für die HörerInnen mit dem Album verknüpft sind.

Sicherlich lassen sich diese beiden bisher genannten Dimensionen nicht vollkommen voneinander lösen oder schichten, aber sie sind beide eindeutig als empirische Formen der kulturellen Existentialität von Behemoths “The Satanis” erkennbar. Um diese Ressourcen der individuellen, subjektiven und persönlichen Erlebensmomente, die für das Publikum möglich wurden und somit Existentialität bedeuten, empirisch anzudeuten, möchte ich als Beispiel dieses Erlebensraums um “The Satanist” das Coverbild der CD in meine empirische Deutung einflechten:

http://www.onslaughtradio.com/wp-content/uploads/2014/02/wpid-storagesdcard0musicbehemoth-the-satanistthe-satanist.jpg  9

Das scheinbar so allegorische und in viele Richtungen offene Cover korreliert zu den übrigen sensualen und emotionalen Aspekten des Releases und ermöglicht somit einen komplexen visuellen, höchst persönlichen Raum, in dem das Publikum jene Emotionen einbringen und schließlich für sich zur Geltung bringen kann, die für die jeweiligen KonsumentInnen Existentialität und Identität ausmachen. Gerade die Metaphernhaftigkeit, die Offenheit, das “Nur-Verweisen” auf scheinbar dahinter liegende tiefe und mystische Wahrheiten, die dem Cover eigen scheinen, machen diese zweite empirische Dimension des Albums aus. Es geht hier um ein individuelles Erleben von Transzendenz und emotionaler Tiefe sowie ein “Im-Einklang-Mit-Der-Welt-Sein”, das einerseits die Musik selbst, aber auch die sie begleitende Bilderwelt ermöglichte.

Im Album sowie seiner Bilderwelt sind individuell zu erschließende Gefühlswelten der Sinnhaftigkeit, der Einheit, aber auch des Paradoxen enthalten, die individuelle, vor allem emotionale, aber auch reflexive Bezugnahmen zur Welt bereitstellten. Dies macht die zweite entscheidende Dimension der historischen Wirklichkeit von “The Satanist” aus. Hier geht es um individuelle, subjektive und persönliche Erlebensmomente, die ebenso die Möglichkeiten der Subjektivierung durch harte Musik kennzeichnen. Besonders deutlich wird diese emotionale, aber auch reflexive individuelle Dimension, wenn man den Videoclip zum Stück “Blow Your Trumpets Gabriel” betrachtet, der das Album begleitete:

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Dieser ebenso mystisch und in Schwarz-Weiß-Optik gehaltene Clip mit seinen Empfindenswelten des Schocks, des Abscheus, der Symbolizität, der Ritualistik, der “Opferung”, also des Sich-Hingebens sowie des Empfangens zugleich, setzte genau dort an, wo auch das Cover ansetzte. Der Clip ermöglichte starke individuelle Emotionen der Identifikation mit dem Gezeigten, zugleich des Sich-Verwehrens gegen das Gezeigte, der weltlichen und religiösen Transzendenz, der Identität, gar des Ablehnens der Ästhetik, kurz er schaffte einen Wirklichkeitsraum, in welchem sich die SeherInnen und HörerInnen als existentiell seiend empfinden können. Dies ist eine wesentliche, wenn nicht gar fundamentale Vorraussetzung dafür, dass Kunst als der Existentialität trächtig empfunden wird. All dies spielt sich auf der individuellen und persönlichen Ebene der Wirklichkeit der Kulturgeschichte ab. Kurz, empirisch betrachtet ist “The Satanist” existentiell, weil das Album individuelle exsitentielle Erfahrungen ermöglicht.

  • (3) “Materiale Momente” als empirisches Thema

Ein dritter empirischer Aspekt von “The Satanist” findet sich schließlich in der Materialität, die dem Album, seinem Hören, dem Besuchen der Konzerte und allen Erlebensbahnen, die mit dem Werk verbunden sind, eigen sind. (3) Unter materialen Momenten ist in der Empirie des Beispiels von Behemoths 2014er-Album zu verstehen, dass dem Werk spezifische materiale Qualitäten eigen sind, die dazu beitragen, die historische Realität auf bestimmte Art und Weise als exsitentiell zu entwerfen und zu erzählen sowie zu konzipieren.

In der “klassischen” Situation der Rezeption einer neuen Musik-CD geht es hierbei um alle Aspekte der Haptik, die mit dem Entdecken der neuen CD verbunden sind: das Blättern im Booklet, das Entnehmen der Disc aus dem Jewelcase, das In-Händen-Halten der leichten CD sowie schließlich das Einlegen der CD in den CD-Spieler. Alle diese sensorischen und sensitiven Prozesse, die ganz kausal mit dem Medium der Compact Disc in seiner Materialität verbunden sind, machen den Raum von historischer Wirklichkeit als dritte Dimension mit aus. Diese Haptik und Materialität des Albums als Quelle erlauben existentiell wirksame Gefühle und Empfindungen der Handhabbarkeit, der Kontrolle über das Geschehen, durch das Blättern im Booklet schließlich einer Illusion, den tieferen Sinn des Werks erkannt zu haben.

Somit trägt ebenso die Materialität zur  historischen Wirklichkeit der Empirie von “The Satanist” bei. All die materialen Momente der Stofflichkeit, die mit dem Werk verknüpft sind, tragen zum Empfinden existentiellen Sinns und existentieller kultureller Identität bei. Dies scheint ein Phänomen der Oberfäche des Materials zu sein, ergänzt jedoch die beiden schon erarbeiten empirischen Dimensionen von “The Satanist” auf offensichtliche Weise.11 Auch das Material der Geschichte ist ein Aspekt von Subjektivierung. Kurz, der Stoff, aus dem “The Satanist” für die Menschen besteht, macht in empirischer Hinsicht auch die Existentialtität des Albums aus.

Ich möchte dies zusammenfassen: Begreift man die Kulturgeschichte harter Popmusik in ihrer Empirie als Triptychon von Wirklichkeitsprozessen, die (1) diskursive Konstruktion, (2) individuelle, subjektive und persönliche Erlebensmomente sowie schließlich (3) materiale Momente der Geschichte gleichberechtigt vernetzend integriert, wird es möglich, die Bedeutungsprozesse, die diese Musik für KünstlerInnen, VermittlerInnen sowie dem Publikum bereitstellt, besser zu verstehen. Das Beispiel von Behemoths “The Satanist” zeigte, dass dieser empirische Dreierstrom eine kulturgeschichtliche Subjektivierung ermöglichte, die es den Menschen erlaubte, sich in der Kultur zu vernetzen, sich persönlich als seiend zu empfinden und schließlich diese Prozesse der Sozialisation und Individualisation mit dem Empfinden und reflektierten Erschließen von Sinnhaftigkeit und Bedeutung zu verbinden.

In diesem Sinne ist “The Satanist” von existentieller kultureller Bedeutung. Seine Existentialität ist kulturgeschichtlich und empirisch erklärbar. Diese Trias von Prozessen schafft in ihrer Vernetzung (wobei jedoch jede Dimension auch für sich allein betrachtet werden kann) ein multimodales Netzwerk der Empfindung von, des Nachdenkens über und des Lebens von harter Musik. Dieses Netzwerk gilt es empirisch und theoretisch zu ergründen, wenn man harte Musik als “kulturellen Ort” der Zeit nach 1989 kulturgeschichtlich thematisiert.


  1. Vgl. hierzu: Lynn Hunt/Aletta Biersack (Hg.): The New Cultural History. Berkeley u.a. 1989. 

  2. Vgl. hierzu etwa: Catherine Belsey: Poststrukturalismus. Stuttgart 2013. 

  3. Vgl. hierzu etwa prägend die Schriften im deutschsprachigen Diskurs Ute Freverts: Dies.: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München 2013; sowie: Dies.: Vergängliche Gefühle. Göttingen 2013. 

  4. Vgl. hierzu: Peter Pichler: Nostalgie. Eine geschichtsphilosophische Skizze. In. HMRG 23 (2010), S. 171-181; sowie: Ders.: Das Ich in der Geschichte. In: HMRG 24 (2011), S. 151-159; schließlich siehe: Ders.: Zur Identität der HistorikerInnen. In: AKG. Im Erscheinen. 

  5. Vgl. etwa aus dem jüngeren Diskurs: Barbara Naumann u.a. (Hg.): Stoffe. Zur Geschichte der Materialität in Künsten und Wissenschaften. Zürich 2006; sowie ebenso jüngst: Francois-Xavier de Vaujany u.a. (Hg.): Materiality and Time. Historical Perspectives on Organizations, Artefacts and Practices. Basingstoke u.a. 2014; schließlich siehe auch: Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft. Berlin u.a. 2010. 

  6. Quelle: http://www.metal.de/black-metal/review/behemoth/56695-the-satanist/, abegfragt am 02.01.2015. Hervorhebungen im Original. 

  7. Quelle: http://www.laut.de/Behemoth/Alben/The-Satanist-92417, abgefragt am 02.01.2015. Hervorhebungen im Original. 

  8. Quelle: http://www.steelforbrains.com/post/75844795838/behemoth-the-satanist, abgefragt am 02.01.2015. 

  9. Quelle: http://www.onslaughtradio.com/wp-content/uploads/2014/02/wpid-storagesdcard0musicbehemoth-the-satanistthe-satanist.jpg, abgefragt am 02.01.2014. 

  10. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=SnTL1L8a6YI, abgefragt am 02.01.2015. 

  11. Vgl. etwa: Nils Lehnert: Oberfläche – Hallraum – Referenzhölle. Postdramatische Diskurse um Text, Theater und zeitgenössische Ästhetik am Beispiel von Rainald Goetz’ “Jeff Koons”. Hamburg 2012.