Was ist ein “kultureller Ort”?

Meine einführenden Prolegomena zu einer Kulturgeschichte harter Musik habe ich mit dem Ansinnen beschlossen, den heutigen Diskurs von Heavy Metal in  all seinen Spielformen, aber auch seine Kulturgeschichte nach sowie vor 1945 in theoretischer Hinsicht als einen “kulturellen Ort” zu begreifen. In diesem Beitrag möchte ich diesen Gedanken aufgreifen und weiter vorantreiben sowie ausdifferenzieren. Der jüngere kulturgeschtliche Diskurs ist reich an Beiträgen, die das epistemische Konzept der “Erinnerungsorte” auf verschiedenste nationale, aber auch transnationale Bereiche anwenden.1 In spezifisch europäischer Perspektive ist im wissenschaftlichen Umfeld des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz auch ein umfassendes Veröffentlichungsprojekt zu europäischen Erinnerungsorten erschienen.2

Zwar ist schon öfters das Ende des “Memory Booms” verkündet worden, doch ist die Diskussion um Gedenkpolitik und Erinnerungsorte (man denke etwa an das transnationale Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914, dessen man sich im Gedenkjahr 2014 umfassend annahm) ungebrochen. Das Konzept der Erinnerungsorte ist hochgradig anschlussfähig und in vielen Punkten auch erfolgreich. In der Beschäftigung mit der Kulturgeschichte der harten Musik, die ja auch transnationalen und europäischen Charakter hat, möchte ich über das Epistem der Erinnerungsorte hinausgehen. Verbreitert man dieses theoretische Modell und betrachtet die Popmusik in der Kulturgeschichte des Heavy Metal allgemeiner als Ort der Stiftung von kulturellem Sinn und kultureller Identitäten, kommt man einem solchen Ansinnen näher.

Wie ich bereits in meinen einführenden Prolegomena dargelegt habe, ist die harte Musik nicht nur ein Prozess des akustischen Rezipierens dieser Spielformen, sondern auch eine Frage der kulturellen Identität, der Konstitution von Gemeinschaftskulturen, der Konstrukion und Dekonstruktion von Geschlechterrollen, der Mythifizierung von “Wahrheit”, “Echtheit” und “Authentizität”, der politischen Ideologisierungen und Verortungen, der Religiosität sowie der Beschäftigung mit der Vergangenheit und Geschichte. Die harte Musik ist daher mehr als ein Erinnerungsort: sie ist zugleich ein Identitätsort, ein Gemeinschaftsort, ein Geschlechtsort, ein Wahrheits- und Wissensort, ein Politikort, ein Religionsort und eben auch ein Geschichtsort. All dies ist theoretische Grundlage einer Kulturgeschichte der harten Musik. Man kann dies im theoretischen Begriff des kulturellen Orts zusammenfassen. Der Diskurs hat diesen Terminus bisher nur gestreift.3

Was ist dieses Konzept eines kulturellen Ortes, wenn man es weiter definiert und analytisch-theoretisch ausformuliert? In gewisser Weise geht es auch darum, das Konzept der “dichten Beschreibung”, das Clifford Geertz in den kulturwissenschaftlichen Diskurs eingebracht hat, zu modifizieren, auszubauen und für den Diskurs der harten Musik zu operationalisieren.4 Wenn man die harte Musik umfassend als kulturellen Ort begreift, impliziert dies vielschichtige kulturelle Erfahrungs-, Wissens- und Interpretationsprozesse.  Ein Ort ist ein Platz im Diskurs und in der Kultur, an dem man sich begeben kann, wenn man das möchte, aber auch ein Platz, den man vermeiden kann zu betreten, wenn man ihn nicht mag oder gar ablehnt. Ein kultureller Ort in diesem Sinne ist eine Sinnsphäre, die ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit erschafft und stabilisiert.

Es geht hier vor allem um die Beschäftigung des Publikums mit harter Musik, aber sicherlich auch um deren Erschaffung und Vermarktung sowie Medialisierung. Ein kultureller Ort ist ein diskursiver Aufenthaltsplatz, an welchem sich die HörerInnen harter Popmusik begeben können, wenn sie das möchten. Somit ist das Konzept des kulturellen Ortes zentral mit Aspekten von Freiheit, Autonomie, Selbstorganisation und Demokratie verbunden. Die harte Musik als kultureller Ort ist ein Bereich, in den die HörerInnen dieser Spielformen vordringen können, wenn sie es möchten und für richtig halten, er wird durch die Freiwiligkeit des Publikums erst erschaffen. Dieser kulturelle Ort verfügt über eigene physische und materielle Räume (etwa im Schaffen der Musik die Übungs- und Kompositionsräunlichkeiten, dann natürlich die Konzert- und Liveorte sowie schließlich der private Bereich der HörerInnen, wenn sie die Musik rezipieren) sowie eigene temporale Strukturen.

In Bezug auf diese eigene Zeitlichkeit des Diskurses gilt, dass mit dem Hören von harter Musik gleichsam eine eigene zeitliche Sphäre betreten wird. Diese Zeit hat ihre “Stunde null”, wenn das Publikum mit dem Hören der Metal Musik beginnt; es entspinnt sich so ein zeitliches und historisches Kontinuum, das mit diesem Ursprung beginnt und erst dann endet, wenn die Musikschaffenden und ihr Publikum den Ort der harten Musik wieder verlassen. Genauso ist es Aspekt der Temporalität, dass die Inhalte der Musik – ähnlich den Kulturformen des Films oder der Literatur – einen eigenen inhaltlichen Zeitraum schaffen. Hier kann man etwa an die Epoche des Mittelalters denken, die als zeitliche Struktur und Erzählung in vielen Genres der heutigen Heavy Metal Musik aufgenommen und bearbeitet wird. Ein kultureller Ort im Sinne einer Theorie der Kulturgeschichte harter Musik ist demnach ein Platz des Diskurses und der Kultur, der einen eigenen Raum und eine eigene Zeit schafft, der vor allem durch den freien Willen der HörerInnen und ZuseherInnen geprägt ist. Kurz, ein kultureller Ort in diesem Sinne ist ein Teil der Wirklichkeit, den die harte Musik erschafft, indem sie den Musikschaffenden und ihrem Publikum Freiheiten schenkt.

Damit sind einige grundsätzliche Eigenschaften des Konzepts eines kulturellen Orts auf den Punkt gebracht. Es geht auch darum, dass die Kulturgeschichte harter Musik in einer Zeit, die durch Globalisierung, Informationsdruck und “Geständniszwang” der pluralen Postmoderne gekennzeichnet ist, auch einen großen kulturellen Ressourcenpool von Freiwilligkeit, “Ja-” und “Nein-Sagen” zur Auseinandersetzung mit der Kulturform der Musik und einer grundsätzlichen kulturellen Autonomie sowie Selbstorganisationsfähigkeit darstellt. Zwar rückt Heavy Metal heute auch immer weiter in die Zentren der europäischen sowie globalen Kulturen vor, doch ist es nach wie vor der Fall, dass das Publikum mit dieser Form der Popmusik in der Regel nicht “erschlagen” wird. Zwar nimmt das Airplay zu, doch ist das Hören und die Beschäftigung mit harter Musik in all ihren Erscheinungsformen (Information in “Szene”medien, Hören der Musik, Besuch von Konzerten, natürlich ursprünglich die Akte des Komponierens) eine Sphäre der Freiheit und der autonomen kulturellen Sinnsuche und Verortung.

Die Theorie des kulturellen Ortes ist daher eine Theorie der autonomen und selbstorganisierten kulturellen Identitätskonstruktion. Harte Musik bedeutet demnach Wahlmöglichkeiten in der Zeit globaler popmusikaler Vereinheitlichungstendenzen. Die zentrale Frage besteht demzufolge darin, wie die Erfahrungs-, Wissens- und Interpretationsprozesse zu theoretisieren sind, die zur Konstruktion dieses kulturellen Orts führen. Zentral hierzu ist es, vom Begriff der “Introspektion” auszugehen und die Konstruktion des kulturellen Orts der harten Musik als eine “Reise ins Ich” bzw. eine “Reise ins Wir” zu konzipieren.5

Dies heißt, dass die diskursive Konstruktion des kulturellen Ortes des heutigen Heavy Metal einen kulturellen Erfahrungs- und Verortungsprozess darstellt, der einerseis dazu beiträgt, die Ich-Identität des wahrnehmenden Subjekts auszubilden und zu stärken. Durch das Hören von harter Musik erfahren die HörerInnen etwa etwas mehr über sich und tragen zu ihrer individuellen Identitätskonstruktion bei. Andererseits ist das Schaffen, die Medialisierung und schließlich vor allem wieder das Hören harter Musik immer auch ein Wir-Prozess. Diese Diskurse umfassen Kommunikations- und Gemeinschaftsbildungsprozesse. Wenn Menschen heutzutage Metal Musik hören – dies kann auch in sozialen Zusammenhängen wie etwa vor allem in Konzerterfahrungen bestehen -, bilden sie zugleich ein bestimmtes Bild ihrer Wir-Identität aus. Gruppen, die durch die Kulturerfahrungen harter Popmusik entstehen, sind auch als “imagined communities” zu sehen.6

Eine Reise ins “Ich”

Ich-Identitäten sind in der heutigen kulturellen Landschaft höchst umkämpft. Ging man zu Zeiten der Moderne und Hochmoderne (ich sehe hierzu vor allem die Epochenumbrüche um 1989 als entscheidende Zäsuren) in der Betrachtung von Ich-Identitäten davon aus, dass diese mit dem Ziel der Kontinuität, der Stabilität und Strukturiertheit betrieben werden sollte, so ist diese scheinbar klare Zielsetzung heute endgültig verlorengegangen. In der Zeit der postmodernen Europäisierung und Globalisierung vor allem seit 1989 stellt das Bedürfnis, sich mit dem eigenen “Ich” zu beschäftigen, einen hochgradig ambivalenten und ambiguitätsbelastenden, wenn nicht sogar “gefährlichen” Willensprozess dar. Die Kulturen sind heute durch die “Glokalisierung”, also durch Vereinheitlichung und Individualisierung zugleich gekennzeichnet. Für die Suche nach dem “Ich” bedeutet dies, dass einerseits in diesem Sinn- und Erfahrungsprozess enorme Chance der individuellen Lebens- und Glückschancen bestehen, da nämlich die grunsätzlich mögliche Autonomie und die Toleranz der Individualität ganz unterschiedliche Lebenswege ermöglichen.

Andererseits bedeutet die Suche nach dem “Ich” in Zeiten der scheinbaren Universalgültigkeit der vor allem englischsprachigen Popkultur, dass das “Ich” einem enormen Uniformierungsdruck ausgesetzt ist. Dies macht die Ambivalenz und die Ambiguität der heutigen Suche nach der Ich-Identität aus. Die “Gefahr” dieser kulturellen Zweischneidigkeit besteht darin, dass sich die Sinnsuchenden in der Simultanität von Individualisierungsmöglichkeit und Uniformierungsdruck verlieren und radikale kulturelle Strömungen, die “einfache” Lösungen anbieten, die Oberhand gewinnen. So ist etwa der jüngste “Dschihad-Tourismus” nach Syrien und in den Irak auch in diesem Sinne zu sehen. In der postmodernen Epoche unserer Tage ist die Ausbildung der Ich-Identität also ein zweischneidiger Prozess; er zielt nicht mehr auf Stabilität und Kontinuität, sondern auf anlassgegebene Strukturbildung in der Beziehungsvernetzung zu kontextuellen Umgebungsfaktoren ab. Die Ich-Identität ist somit historisch und im Leben über verschieden Zeitphasen dynamisch und höchst wandelbar.

In theoretischer Hinsicht kann in einer weiteren Ausdifferenzierung des Begriff des kulturellen Orts, die Beschäftigung mit harter Musik als Form der Suche nach Ich-Identität, als eine “Reise ins Ich” wahrgenommen werden. Was bedeutet dies? Es heißt – wenn man das vor allem psychologische Konzept der “Introspektion” aufnimmt7 -, dass vor allem im Hören, Sehen und Erfahren von Metal Musik ein Weg gegeben ist, der an diesen kulturellen Ort führt. Dieser Weg führt dazu, dass die Musikschaffenden, die Musikvermittelnden, vor allem jedoch das Publikum in der Musikerfahrung Wissen über sich selbst gewinnen. Das Hören von harter Musik stellt in einer solchen kulturtheoretischen Perspektive eine “Reise ins Ich” dar; konzetrieren wir uns auf die Theorie des Hörens dieser Musikformen: dies bedeutet Introspektion; es heißt, dass ich mich – ähnlich der selbstreflexiven Aspekte des kulturanthropologischen Konzepts der “teilnehmenden Beobachtung”8 – selbst dabei beoachte, wie ich in mein Inneres einkehre und mich dabei von der Musik leiten lassen.

Dies stellt eine kulturelle “Reise ins Ich” dar; ich begebe in mich, zugleich jedoch in der Vorstellung in den assoziativen Kulturraum, den die Inhalte der Musik und ihre Vermittlung erzeugen. Dies ist der spezielle kulturelle Ort der harten Musik. Dies ist ein Ort in mir, zugleich ein Ort mit eigenem Raum und eigener Zeit außerhalb von mir; es ist die “Reise ins Ich” beim heutigen Hören von Metal Musik gleichsam ein Vorgang, in welchem ich mein Inneres nach außen “stülpe” und mich mit der weltlichen Umgebunsgerfahrung der Musik in Einklang bringe. In der Theorie kann die Methode der Introspektion dazu beitragen, diesen Weg der Ich-Konstruktion zu erforschen. Wenn ich mich selbstorganisiert und selbstreflexiv dabei begleite, wenn ich mich an den kulturellen Ort der harten Musik begebe, dann erfahre ich mehr über mich. Ich erkenne, welche Emotion, Assoziatonen, Gedankengänge und Schlüsse diese Musikerfahrung bei mir auslöst; kurz: das Hören von Heavy Metal ist heutzutage ein Weg der Ich-Konstruktion, eine “Reise ins Ich”.

Wenn ich mich an den kulturellen Ort der harten Musik begebe, entwerfe ich mich selbst als Individuum, das sich in diesem Raum und dieser Zeit befindet. Ich werde somit nicht nur zur “Metallerin” oder zum “Metaller”, sondern in ganz individueller Form zu der Person, die ich im Rahmen des kulturellen Orts der harten Musik sein will. Kurz, diese “Reise ins Ich” im Rahmen der theoretischen Ergründung der Kulturgeschichte der heutigen Metal Musik ist ein Weg der projizierenden Selbstverwirklichung. All dies basiert auf Vorstelllungen, Fantasien und Wünschen, dies ist aber zugleich die große kulturelle Begabung der Menschen in der Postmoderne.

Wenn etwa der Autor dieses Beitrags an seinen persönlichen Lebenszusammenhang denkt, dann ist das Hören des Queen-Livealbums “Live at the Rainbow ’74”, das im September 2014 erschien und die frühe Phase dieser stilbildenden Rockband dokumentiert, die durchaus als Heavy Rock, also als Frühform der harten Musik gelten kann, eine ganz subjektive, individuelle und persönliche “Reise ins Ich”. Mich überkommen Gedanken der Traurigkeit, wenn ich an den frühen Tod des Ausnahmetalents Freddie Mercury denke, aber auch Gedanken der Bewunderung und des Lebensgenusses, wenn ich die Dynamik und Lebendigkeit wahrnehme, die die Konzerte im November 1974 mit sich brachten. In der “Reise ins Ich”, die mich kontemplativ an den Konzertort des “Rainbow Theatre” in London im November 1974 führt, also ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit erschafft, entwerfe ich mich als Persönlichkeit, die Lebensfreude, Aufgeschlossenheit und kulturelle Freiwillikgeit mit ihrem eigenen Sein auf existenzielle Weise verbindet. Dies ist ein Aspekt einer Theorie der Kulturgeschichte harter Musik. Die Auseinandersetzung mit harter Musik in all ihren Erscheinungsformen umfasst jedoch auch Prozesse der Wir-Konstruktion.

Eine Reise ins “Wir”

Die Beschäftigung mit harter Musik, ihr Erschaffen, ihre Vermittlung und schließlich ihr Wahrnehmen ist immer auch ein Prozess der Wir-Konstruktion. Die Neue Kulturgeschichte, wie sie seit Ende der 1980er-Jahre vor allem im englischsprachigen Diskurs entstand und bald auch im deutschsprachigen Raum rezipiert wurde, legt eine Schwerpunkt auf die Erforschung der Ausbildung und Konstruktion kollektiver  Identitäten. Dies begann schon mit der konstruktivistischen Nationalismusforschung zu Beginn der 1980er-Jahre9 und wurde vor allem auch seit den 1990er-Jahren auf transnationale und europäische Diskursfelder ausgeweitet.10

Ähnlich der Konstruktion von Ich-Identitäten wurde die kulturelle Formierung von Gemeinschaftsidentitäten im modernen und klassischne Positivismus, wie er vor allem das 20. Jahrhundert maßgeblich prägte, mit den Zielen der Stabilität und Kontinuität, in negativ wertender Sicht mit den Zielen der Exklusivität, der “Auserwähltheit” und der Vorrangstellung der zu begründenden Kulturgemeinschaft, betrieben. Das klassische Beispiel hierfür ist die Konstruktion des “Wir”, das Nationaldiskurse im 19. und 20. Jahrhundert ausbildeten und dabei in der Regel die eigene Nation über alle anderen kulturellen Gemeinschaften erhob.

In der Extrementwicklung des Nationalsozialismus führte das Wir-Gefühl im Hitler-Deutschland der 1930er und 1940er-Jahre zu Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung. Aber dies soll hier nicht im Mittelpunkt stehen, wenn auch die Gefahren der klassisch-hochmodernen Begründung des “National-Wir” nicht außer Betracht bleiben können. In der Postmoderne unserer Tage, deren Beginn wohl mit den Ereignissen der Umbrüche um 1989 anzusetzen ist, ist von den Bedürfnissen nach Stabilität, Kontinuität und Exklusivität nicht viel übrig geblieben. Die heutige Suche nach dem “Wir” bedeutet, die Relativität der eigenen kulturellen Wahrnehmung im “Wir” zu akzeptieren, sie hat demnach “reflexiven” Charakter. Wolfgang Schmale hat dies für die Kulturgeschichte der europäischen Integration auf den Punkt gebracht.11

Auch vor allem das Hören harter Musik stellt im Zusammenhang der Postmoderne eine “Reise ins Wir” dar, die ein kultureller Wissens-, Erfahrung- und Interpretationsprozess solchen Zuschnitts ist. Wenn sich das Publikikum von Heavy Metal Musik heute in kulturellen Gemeinschaftserfahrungen an den kulturellen Ort der harten Musik begibt, dann bedeutet dies eine “Reise ins Wir”; es bedeutet, dass sich ein Bild einer Gemeinsamkeit im “Wir” bildet. Hier ist an Livekonzerte, gemeinsames Hören der Musik in Ausgehlokalen und -kneipen, aber auch etwa die gemeinsame Deutung und Erfahrung der Musik im Gespräch (persönliche Kommunikation, Internetforen, Blogs usw.) zu denken. All dies sind Formen, sich an den kulturellen Ort der harten Musik zu begeben, der damit auch der Raum und die Zeit einer Konstruktion der Wir-Gefühle und der Wir-Gedanken ist.

Diese “Reise ins Wir” besteht etwa darin, sich durch Kleidungscodes (der Klassiker ist die “Kutte” der “MetallerInnen”, die mit Patches und Symbolen der Musik aufgeladen wird) in der Gemeinschaft des Metal-Publikums zu verorten. Diese Gemeinschaft wird durch diese Wir-Erfahrungen mitbegründet. Sie wurde vor allem seit ihrer Entstehungsgeschichte als “imagined community” seit den frühen 1980er-Jahren als Opposition und Rebellion gegen  den “Mainstream” konstruiert. Heute ist diese Wir-Konstruktion hochgradig ambivalent – noch immer fordert die Kultur der Metal-Musik ein, den Individulismus und das “Anders-Sein” zu fördern. Es steht jedoch außer Frage, dass die Metal-Musik immer stärker in den “Mainstream” vordringt und diesen auch mitprägt (man denke an Chartplatzierungen, Airplay, Verkaufszahlen oder auch Releases auf Majorlabels).

Es ist in der Postmoderne der Fall, dass das “Wir”, das durch das Sich-Begeben an den kulturellen Ort der harten Musik mitgestiftet wird, auch als antiessentialistische, raum- und zeitbedingte, instabile und performative Konstruktion gesehen werden muss. Wenn ich mich etwa im Jahre 2007 als Mitglied der Gemeinschaft der “MetallerInnen” verortet habe, heißt das nicht, dass ich im Jahre 2014 nicht zugleich kulturelles Mitglied der “In-Group” der House-AnhängerInnen sein will und kann. Das theoretische “Wir”, das mit dem Hören und Erfahren der harten Musik verbunden ist, ist somit instabil und diskursiv variabel, muss als kulturelle Gemeinschaftserfahrung mit beschränktem Raum und zeitlichem “Ablaufdatum” gesehen werden. So erinnert sich etwa der Autor dieses Beitrags höchst gerne an seinen Besuch des Konzertes von Iron Maiden im Jahre 2005 in der Stadthalle Graz. Dieser Konzertbesuch ist in der heutigen Selbstbeobachtung im Sinne des Denkwegs der Introspektion als eine “Reise ins Wir” zu sehen, die mit einer Gruppenkonstruktion verbunden war, die räumlich und zeitlich beschränkt, also historisch und instabil war.

Der Autor fühlte sich im Jahre 2005 im Erleben dieses Konzerts als tief im “Wir” verankertes Mitglied der weltumspannenden AnhängerInnen-Gemeinschaft von Iron Maiden. Im Jahre 2014 hat sich diese Wir-Konstruktion deutlich verändert – wenn ich heute das Live-Album “En Vivo!” dieser Band höre, das im Jahre 2012 erschien und ein Konzert der Gruppe im Jahre 2011 in Santiago, Chile, dokumentiert, zugleich auf die Preise des Merchandising von Iron Maiden blicke, wird mir klar, dass meine “Reise ins Wir” von 2005 ein klares “Ablaufdatum” hatte. Da ich heute der Kommerzialisierung der Musik von Iron Maiden als popmusikalischem Projekt eher kritisch gegenüberstehe (diese Musik aber nach wie vor erlebe und genussvoll erfahre), scheide ich im Jahre 2014 eher aus der AnhängerInnen-Gemeinschaft von Iron Maiden aus. Diese “Reise ins Wir” hatte somit eine klare historische Limitierung und war instabil. Dies gilt für alle Wir-Konstruktionen, die sich ausbilden, wenn wir heute harte Musik erfahren – sie können sich schon im nächsten Moment in Luft aufgelöst haben. Der entscheidende Schritt des Nachdenkens über die Theorie einer Kulturgeschichte der harten Musik findet sich darin, kulturelle Ich-Erfahrungen sowie Wir-Erfahrungen in ihrem spezifischen Beziehungsverhältnis zueinander zu erforschen. Die Kulturgeschichte der harten Musik ist nichts anderes als eine besondere Geschichte zweier eigener Form der Ich/Wir-Konstellationen.

Ich/Wir-Konstellationen als zentrale theoretische Elemente

Ich gehe davon aus, dass im Diskurs der harten Musik bestimmte Kräfte am walten sind, die diesen Formen der Popmusik ihren ganz eigenen Charakter verleihen. Wie bereits theoretisch gezeigt wurde, ist das Sich-Begeben an der kulturellen Ort des heutigen Heavy Metal sowohl eine “Reise ins Ich” als auch eine “Reise ins Wir”. Vor allem wiederum das rezeptive Erfahren der harten Musik stellt einen Prozess dar, in dem “Ich” und “Wir” oft in Vernetzung und Überschneidung, Simultantiät oder Parallelität ausgebildet werden. Das “Ich” ist oft ohne das “Wir” von geringer Bedeutung, während genauso das “Wir” oft ohne das “Ich” nicht seine kulturgeschichtliche Wirkung entfalten kann.

Es ist daher das zentrale theoretische Thema meines kulturgeschichtlichen Anliegens, die spezifischen diskursiven Beziehungsmuster zwischen dem “Ich” und dem “Wir”, die in der Erfahrung der harten Musik historisch ausgebildet wurden, als ganz eigene Charakteristik dieser Musikformen zu erfassen und zu analysieren. Ich gehe davon aus, dass in der Kulturgeschichte der Metal Musik zwei eigenständige Beziehungsformen zwischen Ich-Konstruktionen und Wir-Konstruktionen entstanden sind, die diesen Diskursen ihr besonderes Gepräge verleihen. Und: diese Beziehungsformen zwischen dem “Ich” und dem “Wir” sind die Kulturstil stiftende Eigenheit dieser Musikformen vor allem seit den späten 1960er-Jahren. Diese Ich/Wir-Konstellationen treten nur in der harten Musik auf. Sie machen den heutigen Heavy Metal, zu dem was er ist – nämlich auch ein Ort der kulturellen Selbstbestimmung und Freiheit. Die erste Form der Ich/Wir-Konstellation, die ich beleuchten will, besteht in der diskursiven “Verschmelzung”.

  • “Verschmelzung” von “Ich” und “Wir”

Wenn heute im Jahre 2014, in welchem der Kulturdiskurs der harten Musik zumindest schon vier Jahrzehnte “am Buckel hat”, danach gefragt wird, wie in diesem Diskurs das “Ich” und das “Wir” zueinander in Bezug gesetzt werden, dann findet sich eine erste Form dieser Ich/Wir-Konstellationen in einem Prozess, den man als “diskursive Verschmelzung” verstehen kann. Wenn etwa “MetallerInnen” auf ein Konzert von Metallica im Zuge ihrer “Metallica by Request”-Tournee im Jahre 2014 gingen, so fanden sie ganz eigene Formen der Teilnahme und kulturellen Partizipation vor. Die Band überließ auf dieser Tournee dem jeweils vor allem national verorteten Publikum, die Setlist per SMS-Voting mitzubestimmen.

Dies ist eine ganz bemerkenswerte, theoretisch zu erfassende Form der Ich/Wir-Konstellation: einerseits konnte jede und jeder der KonzertbesucherInnen ihre oder seine jeweils eigene und individuelle Botschaft an die Band senden, indem sie oder er per individuellem Voting-SMS am Auswahlprozess der Setlitst teilnahm. Dies bedeutete eine “Reise ins Ich”, eine Ich-Konstruktion, in welcher die Zuseherin oder der Zuseher seine ganz individuellen Gedanken und Gefühle sowie persönlichen Assoziationen zur Musik von Metallica in den kulturellen Raum und die kulturelle Zeit der Konzerte einbringen konnte. Dies war die Ich-Konstruktion. Zugleich stellte jedoch jedes der Konzerte dieser Tournee in entscheidendem Maße eine Wir-Erfahrung dar. Die BesucherInnen der Konzerte stellten sich in langen Schlangen an den Einlässen der Konzertarenen und -hallen an, sahen dabei ihre Gemeinschaft und ihr “Wir”, die etwa auch durch den gemeinsam vewirklichten Code des Logos der Band auf T-Shirts und Kapuzenpullovern gebildet wurde und konnten so ihre “Reise ins Wir” starten. Wenn James Hetfield den aufbrandenden Jubel empfing, der von der versammelten Kulturgemeinschaft der Metallica-Fans ausging, als er die Bühne betrat, schweißte das die Konzertmenge zu einer anlassbezogenen, wenn auch wieder instabilen Kulturgemeinschaft für einen Abend zusammen.

Der entscheidende Punkt an diesem Beispiel ist, dass Ich-Prozesse und Wir-Prozesse hier in keiner Form von einander getrennt betrachtet theoretisch Sinn machen. Ganz im Gegenteil, in der Kulturerfahrung der “Metallica by Request”-Tourne verschmolzen “Ich” und “Wir” der KonzertbesucherInnen, wahrscheinlich auch der Band selbst, zu einer ganz eigenständigen Konstellation. Es entstand im performativen Aufführungscharakter dieses kulturhistorischen Ereignisses ein eigener Raum und eine eigene Zeit, die ein Kontinuum für die Raum- und Zeitphase dieser Konzertreise bildeten. “Metallica by Request” bildete einen transnationalen und globalen kulturellen Ort, an den sich die Fans und die Band begaben, den sie gemeinsam konstruierten.

Das Enscheidende ist, dass im Verlauf dieser Ortskonstruktion – zumindest jeweils für die Dauer eines einzelnen Konzerts – ein Kontinuum im diskursiven Raum zwischen “Ich” und “Wir” entstand. Durch das SMS-Voting brachten die ZuseherInnen ihre Egoismen, durch die Konzerterfahrung als Gemeinschaftsprozess dann ihr “Wir” in den Prozess ein. “Ich” und “Wir” veschmolzen für die jeweilige Dauer eines ganz speziellen Abends zu einem diskursiven Kontinuum. Und, ich denke, dass dieser Prozess der Verschmelzung als erste Form der Ich/Wir-Konstellation ein eigenes und “genuines” Kennzeichen der harten Musik ist. Die zweite entscheidende Form dieser Beziehung zwischen Ich-Prozessen und Wir-Prozessen findet sich in der Aufspaltung in “Ich” und “Wir” – man könnte von einer diskursiven “Atomisierung” sprechen.

  • “Atomisierung” von “Ich” und “Wir”

Das Erfahren und Hören von harter Musik stellt – wie schon öfter erwähnt – sowohl einen Ich-Prozess als auch einen Wir-Prozess dar. Die zweite spezifische Form der Ich/Wir-Konstellationen, die dem Metal Musik-Diskurs eigen ist, kann als diskursive “Atomisierung” beschrieben und theoretisiert werden. In der Auseinandersetzung, im Hören harter Musik kommt es oft zu Situationen, in denen das “Ich” und das “Wir” jeweils einen eigenen kulturellen Weg gehen. Sie kennen  einander zwar, trennen sich in den Identifikationsprozessen aber eher und bilden eigene Stränge der Erfahrung und der Sinnsuche aus. Ich möchte auch dies an einem Beispiel verdeutlichen: in meiner Beschäftigung mit der harten Musik, im Hören der Songs, im Betrachten der Covers und im Recherchieren von Informationen zu einzelnen Bands und KünstlerInnen bin ich im Sommer des Jahres 2014 in immer härtere Bereich des extremen Metal vorgedrungen.

Ich hörte viel Black Metal und Viking Metal der frühen 1990er-Jahre und begab mich in der Konstitution des kulturellen Orts dieser Musik auf die Seelenreise; wenn ich die Technik der Introspektion anwende und selbstreflexiv darüber nachdenke, was in mir geschah, als ich mich an diesen Ort begab, wird mir klar, dass es in der Konstitution des eigenen Raums und der eigenen Zeit dieses individuellen Erfahrungsprozesses zu einer grundlegenden, wenn auch in postmodernem Sinne räumlich und zeitlich limitierten Aufsplitterung des Ich-Bilds und des Wir-Bilds kam. Ich sah mich auf der einen Seiten in sehr individueller Form als Anhänger und Hörender harter Musik, der seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse in die Rezeption der Musik projizierte. Dies war ein eigener kultureller Weg, der an den Ort der harten Musik führte und sich von der Umgebung klar abgrenzte.

Hiervon zu trennen, sah ich mich aber auch als Teil eines “Wir”, das insoferne gebildet wurde, als dass die MusikerInnen des Black Metal und des Viking Metal eine Gemeinschaft (eine “imagined community”) konstruierten, die Opposition zu den Gesellschaften Skandinaviens der frühen 1990er-Jahre ausdrückte oder im Viking Metal die vergangenen Kulturen der nordischen Geschichte wieder aufleben ließ. Diese “Reise ins Wir” hatte mit der “Reise ins Ich” kaum etwas zu tun. “Ich” und “Wir” entfernten sich voneinander, was in einen Prozess der diskursiven “Atomisierung” mündete.

Ich denke, diese zweite Form der Ich/Wir-Konstellation, gewonnen als Begriff einer theoretischen Selbstreflexion im Sinne der Introspektion, ist die andere zentrale Form der Beziehung zwischen Ich-Konstruktion und Wir-Konstruktion in der Kulturgeschichte der harten Musik. Ich gehe davon aus, dass sich ähnliche Erfahrungs- und Subjektivierungsprozesse schon etwa für das Leben und Erfahren harter Musik bereits im Hard Rock und seiner Performanz in der Dekade der 1970er-Jahre zeigen könnten. Die “Atomisierung” der Musikerfahrung in einen Ich-Strang und einen Wir-Strang ist ganz typisch für die Kulturgeschichte der harten Musik und muss in ihren Wurzeln in den späten 1960er und frühen 1970er-Jahren als einer der Motoren der Enstehung der kulturellen Postmoderne gedeutet werden. Die “Atomisierung” als Ich/Wir-Konstellation bedeutet Zweifel, Desidentifikation und kulturelle Spannung, wie sie typisch postmodern sind, aber in dieser spezifischen Form vor allem im Diskurs der Kulturgeschichte der harten Musik anzutreffen sind.

Mit diesen beiden grundsätzlichen theoretischen Formen der Ich/Wir-Konstellationen könnte ein wichiges analytisches Grundelement, ein Erklärungsmodell für die Entstehung des kulturellen Ortes der harten Musik gegeben sein. In weiterer Hinsicht könnte es darum gehen, diese Begriffe empirisch zu “erproben”. Sie erheben wiederum keinerlei dogmatischen Anspruch, sondern sollen als ein theoretisch möglicher Weg in den “Metal Music Studies” und den “Heavy Metal Studies” gesehen werden.


  1. Grundlegend siehe hierzu natürlich das diskursstiftende Projekt zum französischem Kulturraum unter Federführung Pierre Noras: Ders. (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005. 

  2. Vgl. hierzu: Pim den Boer u.a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte. 3 Bände. München 2012. 

  3. Vgl. hierzu etwa folgenden Beitrag: Dorit Elisa Baetcke: Der Stockholmer Sergels Torg als kultureller Ort im 20. Jahrhundert. Eine Studie über Raum und Zeit. Magisterarbeit, Köln 2013. 

  4. Vgl. hierzu diskursstiftend: Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/Main 1987; das Konzept der “dichten Beschreibung” wurde auch spezifisch schon im deutschsprachigen Diskurs auf die Kultur des Heavy Metal angewandt; hier standen dessen symbolische Dimensionen im Fokus; vgl.: Tomislava Kosic: Heavy Metal als kulturelles System nach der Dichten Beschreibung von Clifford Geertz. In: Rolf F. Nohr/Herbert Schwaab (Hg.): Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt. Berlin u.a. 2011, S. 109-124. 

  5. Vgl. hierzu etwa: Thomas Burkart u.a.: Dialogische Introspektion. Ein gruppengestütztes Verfahren zur Erforschung des Erlebens. Wiesbaden 2010. 

  6. Vgl. hierzu: Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London 2006. 

  7. Vgl. Burkhart u.a., dialogische Introspektion. 

  8. Vgl. hierzu etwa schon aus den 1970er-Jahren: Jürgen Friedrichs/Hartmut Lüdtke: Teilnehmende Beobachtung. Einführung in die sozialwissenschaftliche Feldforschung. Weinheim u.a. ³1977. 

  9. Siehe hierzu wiederum den Diskurs bestimmend: Anderson, Imagined Communities. 

  10. Für das Europa der jügeren Entwicklung der Europäischen Union siehe etwa: Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität. Stuttgart 2008. 

  11. Vgl. wiederum: Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, S. 105-130.