In einer Zeit, in welcher gerade in Europa und der Europäischen Union Unsicherheit, Mißtrauen, Skepsis und vielfach auch Ratlosigkeit vorherrschen, wenn man auf den politischen Prozess der Gegenwart sieht, stellt sich die Frage nach der Zukunft in aller Schärfe; nämlich in Bezug darauf, ob diese Zukunft, die uns alle existenziell betreffen wird, eine gute oder doch eine schlechte sein wird. Historisch betrachtet ist die Geschichte Europas und der europäischen Integration nach 1945 beinahe ein Paradoxon oder eine Anomalie: Selten zuvor war es in der europäischen Geschichte der Fall, dass es – zynisch betrachtet – “sowenig” an einer Geschichte der Gewalt gegeben hatte; die Kriege etwa im zerfallenden Ex-Jugoslawien der 1990er-Jahre sind jedoch nicht kleinzureden.

Diese Geschichte, diese auch gute Geschichte Europas nach 1945, versetzt uns damit, in Bezug auf die Erwartungssituation für die kommende Zeit des 21. Jahrhunderts in eine historisch höchst ambivalente Siuation: Die historische Erfahrung der letzten Jahrzehnte (trotz aller Krisen, die sie kannte) ist eine eher optimistische; zugleich wissen wir jedoch auch, dass auch zukünftig negative Entwicklungen nicht nur möglich, sondern in gewissen Sinne auch erwartbar sind. Dieser Erfahrungsrahmen der Kulturgeschichte nach 1945 lässt sich für unseren Raum Europas treffend mit dem Titel der 2014 vom Hildesheimer Europa-Historiker Michael Gehler in zweiter Auflage vorgelegten Geschichte der europäischen Integration zusammenfassen: “Europa. Von der Utopie zur Realität”.1

Mit diesem Titel reisst Gehler die ambivalente historische Erwartungshaltung auf, die die Zeit des frühen 21. Jahrhunderts, sich zuspitzend in Zeiten von “Eurokrise”, “Flüchtlingskrise”, “Grexit” und “Brexit” prägt: In über sechs Jahrzehnten der europäischen Integration wurde mühevoll eine neue europäische Organisationsstruktur erarbeitet, die aus der furchtbaren Hypothek des Zeitalters der beiden Weltkriege heraus eine bessere Zukunft ermöglichen sollte. Somit kann der Prozess der europäischen Integration selbst als ein mentalitätsgeschichtlicher Diskurs gesehen werden, indem das Pendel von der Dystopie hin zur Utopie verschoben werden sollte – was über lange Zeit hinweg auch zu gelingen schien.

Im Jahre 2016 scheint das Pendel wieder in die andere Richtung der Geschichte auszuschlagen: Populistische, in der Regel rechte und rechtsextreme Bündnisse haben Zulauf, die Komplexität der politischen und kulturgeschichtlichen Prozesse scheint überbordend zu werden. Migrationsbewegungen, wirtschaftliche Abwärtsspirale und Unsicherheit sowie das Gefühl der gesellschaftlichen Mitte, nicht mehr politisch repräsentiert zu sein, sind Zeichen der Zeit. Man kann es so zusammenfassen, dass im Europa des Jahres 2016 der Weg, der zuerst nach Gehler als “von der Utopie zur Realität” ausgezeichnet wurde, wieder genau entgegengesetzt verlaufen könnte – nämlich “von der Realität zur Utopie”, sodass ein in Frieden und Prosperität geeintes Europa wieder nationales Stückwerk werden könnte.

Die Erwartungen an unsere Zukunft in dieser diffusen Ambivalenz zwischen Überforderung, Unsicherheit und ihrer politischen Instrumentalisierung, reisst eine, kulturhistorisch betrachtet, höchst spannende Pendelbewegung auf, die einen Diskurs hervorbringt, in welchem weder die negative noch die positive Zukunftserwartung sich vollkommen durchsetzen und als “gültig” herauskristallisieren können. Gerade das Wechselspiel von Utopie als Möglichkeit und Dystopie als Warnung macht unsere Zeit aus – aus dem Wechselspiel erwächst die Lähmung unserer Zeit. Auch an der Kulturgeschichte harter Musik ging dieser Diskurs nicht vorbei. Ich möchte anhand von zwei Beispielen sowie ihrer abschließenden Interpretation versuchen, diesen Diskurs zu beschreiben.

Dirk Bernemanns “Die Zukunft ist schön”

Dirk Bernemann, geboren 1975, ist ein deutscher Autor und Punk-Musiker, der seit 1989 mit verschiedenen musikalischen und literarischen Projekten hervorgetreten ist. Insbesondere seine Bücher “Ich habe die Unschuld kotzen sehen” (2005)2 sowie “Ich habe die Unschuld kotzen sehen – Und wir scheitern immer schöner” (2007)3 sind Beispiele eines subversiven Gegendiskurses zum Mainstream, der höchst ironisch, im Sinne der Kulturgeschichte der Punkmusik, die Gegenwart und Geschichte kommentiert, und dabei den Möglichkeitsrahmen auch gekonnt persifliert.

Mit seinem Buch “Die Zukunft ist schön” aus dem Jahre 2013 geht Bernenmann “aufs Ganze”: In einer Zeit, in der das Wort der “Krise” in Bezug auf höchst unterschiedliche kulturelle Diskurse diese im Kern zu beschreiben  und damit als existenzielle Warnung für unsere zu erwartende Zukunft zu dienen scheint, also die Dystopie zur Realität zu werden scheint, legte Bernemann ein Buch vor, das genau das Gegenteil beschreibt. In dem Werk schläft ein archetypischer, ein “Klischee-Kapitalist” des Jahres 2013, der in dieser Zeit in “Saus und Braus” lebte, in der “Krise”, mit der Dystopie am Horizont ein und wacht 113 Jahre später wieder auf.

Das überraschende Moment besteht in diesem Narrativ darin, dass sich bei Bernemann als Vertreter des subversiven Diskurses der Gegenkultur nicht die Dystopie, sondern die Utopie durchsetzt (mit allen zu erwartenden zynischen Untertönen): Der Protagonist des Buches, Frank Faust, wacht im Jahre 2126 in der “besten allen möglichen Welten”4 auf. Der Kapitalismus wurde abgeschafft, die Menschheit hat einen postkapitalistischen Idealzustand von Harmonie, Selbsterfüllung und Gerechtigkeit erreicht – “die Zukunft ist schön”.

Bei allen Naivitäten (die gewollt sein mögen) und auch beinahe antidemokratisch und quasi-totalitär anmutenden Stilistiken und Floskeln des Buches (die schöne Zukunft ist nur der Überwindung des Kapitalismus geschuldet, sie wird durch eine linke Politik von Gemeinsamkeit und Solidarität, aber auch antidemokratischen Bewegungen wie einer “Einheitspartei”, der “Partei für alle” historisch möglich)5 ist das Buch ein wunderbar verstörendes Beispiel literarischer Zeitkarikatur. Bernemann führt uns – als Vertreter des musikalischen und literarischen Gegendiskurses – höchst eindrucksvoll vor Augen, dass auch die Angst vor der Zukunft diskursiv handgemacht ist:

Vielleicht schaffen wir es ja ein bisschen den Beton aufzubrechen, der uns alle umgibt. Die Wahrscheinlichkeit der Veränderung hängt von uns selbst ab. And things won’t change if we don’t change things…

Und der Witz daran ist, dass das alles weit davon entfernt ist, ein Scherz zu sein…6

Mit diesen einleitenden Worten legt Bernemann das Programm seines literarischen (und auch musikalischen) Diskurses fest. Wir sind unserer eigener Utopie Schmied. Damit ist Bernemann, stellvertretend für den einen Pol des kulturgeschichtlichen Diskurses, pendelnd zwischen noch möglicher Utopie und zu erwartender Dystopie, eine kritische Stimme; kulturgeschichtlich betrachtet, ist das aber nur eine Facette, ein Strang des Diskurses.

Megadeth’ Album “Dystopia”

Im Januar 2016 veröffentlichte die seit den 1980er-Jahren prägende US-amerikanische Thrash-Metal Band Megadeth, Gitarrist, Sänger und Songwriter Dave Mustaine im Zentrum stehend, ihr fünfzehntes Studioalbum “Dystopia”. Megadeth wurde nach vielen weniger erfolgreichen und als künstlerisch weniger hochwertig betrachteten Veröffentlichungen mit diesem Album ein “Comeback” zuerkannt.7 Dieses Comeback ist nicht nur auf die künstlerische Qualität des Albums, sondern wohl und vor allem auch auf den Grunddiskurs zurückzuführen, der das Album trägt. Es nimmt die “Endzeitstimmung”, die im Jahre 2016 vielfach vorzuherrschen scheint, auf und bearbeitet sie im kulturgeschichtlichen Diskurs der harten Musik.

Es war somit nicht nur ein cleverer kultureller Schachzug Megadeth’, sich dem Dystopismus zu widmen, sondern nicht weniger als eine Reflexion, Bearbeitung, teils auch Parodie der momentanen kulturellen Gegenwart. Im titelgebenden Lied der Platte, bereits an der zweiten Stelle der Tracklist zu finden, drückt sich das in den Lyrics aus:

“What you don’t know” the legend goes “can’t hurt you”
If you only want to live and die in fear
They tell us to believe just half of what we see
And absolutely nothing that we hear

Resist the twisted truth no matter what the cost
Supplant the rights with wrongs inside our heads
Outlawing all the questions to the answers
That no one likes when someone ends up dead

Dystopia

“What you don’t know” the legend goes “can’t hurt you”
If you only want to live and die in a cage
There’s panic and there’s chaos rampant in the streets
Where useless thoughts of peace are met with rage

Demoralized and overmastered people think
The quickest way to end a war is lose
Dictatorship ends starting with tyrannicide
You must destroy the cancer at its root

Dystopia8

Die Botschaft des Diskurses, der dem gesamten Album zugrundeliegt, ist in der vorletzten Zeile des Songtexts zu finden: “You must destroy the cancer at its root”. Diese erschreckend brutale und gewalttätige Aussage, verbunden mit dem Befund der Zeile davor, “Dictatorship ends starting with tyrannicide”, ist nicht nur eine kulturhistorische und intertextuelle Referenz zum Topos des Tyrannenmords, sondern der Kern des Dystopismus unserer Zeit. Dieser dystopische Diskurs, zu finden in neuen Fernsehserien, Filmen, Büchern, Medien usw.,  ist vor allem durch die Doppelbödigkeit des gesprochenen Stils geprägt. “You must destroy the cancer at its root” kann nicht wörtlich genommen werden, wenn zugleich darauf verwiesen wird, dass auch der Tyrannenmord gefährlich ist.

Vielmehr ist Mustaines Text in seiner Form, seinem Habitus, seinem Stil, seiner kulturellen Verfasstheit, die eigentliche Beschreibung des Dystopismus unserer Zeit. Die Dystopie, die mit dem Tyrannenmord auch beginnen könnte, ist das Produkt von Ambivalenz, Doppelbödigkeit und Undurchsichtigkeit – damit ist das Album “Dystopia” für die Kulturgeschichte harter Musik ein Beispiel par excellence für den vorherrschenden Dystopismus unserer Zeit: Er besteht darin, sicher zu sein, dass die Zukunft dystopisch sein könnte, warnt aber zugleich vor ihr, nämlich durch einen Gegendiskurs der Ambivalenz aller Dinge. Aber auch “Dystopia” ist nur ein Beispiel des Spektrums der Kulturgeschichte von Utopie und Dystopie im Jahr 2016.

Utopie und Dystopie im Wechselspiel: die Kulturgeschichte harter Musik als “Labor der Zukunft”

Was wir somit an beiden Beispielen festmachen können, ist nicht weniger als der gesamte historische Raum des Diskurses der Zukunftserwartung unserer Zeit in der harten Musik. Auf der einen Seite haben wir das opitimistische, zugleich hochgradig satirische Narrativs Bernemanns “Die Zukunft ist schön” – es fordert uns auf, nicht aufzugeben und die Zukunft historisch anzupacken. Auf der anderen Seite steht das Narrativ, das Megadeth’ Album “Dystopia” zugrundeliegt. Im Sinne einer höchst zynischen Erwartungshaltung von “Schlimmer geht immer” weist es auf die Doppelbödigkeit der Zukunft hin und reflektiert unsere Zeit als eine von Unsicherheit und Intransparenz in allen Belangen.

Betrachtet man das Pendeln des Diskurses der Kulturgeschichte harter Musik im Ganzen zwischen den Polen, folgt ein recht einfacher kulturgeschichtlicher Befund. Der Diskurs der harten Musik ist – wie alle Kulturdiskurse überhaupt – auch ein “Labor der Zukunft”. In ihr wird die mögliche Zukunft als Utopie oder Dystopie nicht nur zeitgemäß verhandelt, sondern auch gleich mit auf den Weg gebracht. Wir können daher aus der scharfen Betrachtung der Zukunftserwartungen in der Kultur von Heavy Metal lernen, wie unsere derzeitige Gesellschaft die Zukunft im Kern entwirft: Da sie zwischen Utopie und Dystopie pendelt, ist sie vor allem eines – unsicher. Das prägende Zukunftsbild unserer Zeit ist, dass wir keines haben.


  1. Vgl. Michael Gehler: Europa. Von der Utopie zur Realität. Innsbruck 2014. 

  2. Vgl. Dirk Bernemann: Ich habe die Unschuld kotzen sehen. Diedorf 2005. 

  3. Vgl. Dirk Bernemann: Ich habe die Unschuld kotzen sehen – Und wir scheitern immer schöner. Diedorf 2007. 

  4. Vgl. hierzu in Bezug auf den Leibniz’schen Topos etwa: Steffen Schütze: Göttliche Willkür oder Gerechtigkeit? Die Theodizeeproblematik im Hiobbuch und in der späteren Rezeption. München 2014. 

  5. Vgl. Bernemann, Zukunft. 

  6. Bernemann, Zukunft, S.6. 

  7. Vgl. hierzu etwa: http://www.metal.de/heavy-metal/review/megadeth/63563-dystopia/, abgefragt am 22.03.2016. 

  8. Lyrics zu Megadeth, “Dystopia”, Song vom Album “Dystopia” (2016).